ahavta+ || drastischste Wahrheiten
Mit dem Monat Juli geht auch das sogenannte Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ endgültig zu Ende, nachdem es „wegen Corona“ um ein gutes halbes Jahr verlängert worden war. Im Interview mit domradio.de zog der leitende Geschäftsführer des Trägervereins, Andrei Kovacs, eine positive Bilanz:
Sein positiv gemeintes Resümee, wir befänden uns „in einer Zeit des Paradigmenwechsels“, in der „das Zusammenleben neu verhandelt wird“, kann man freilich auch andersherum interpretieren, nämlich zum Schlechteren hin.
Chajm Gurski hat auf seinem Blog – einem Artikel in der taz vom 9. Juli folgend – nicht nur auf das jammernswerte Bild des oben gezeigten Gebäudes aufmerksam gemacht:
Das Bild oben zeigt den furchtbaren Zustand eines Gebäudes, das im 17. Jahrhundert in Detmold (in Westfalen) als Betraum fungiert haben soll (bis 1742 Details hier). Detmold hat übrigens eine interessante jüdische Geschichte – nach der Schoah gab es hier noch eine kleine Gemeinde und ein Elternheim (hier nachzulesen). Dass das Gebäude auf dem Foto eine besondere Geschichte hat, wurde jedoch erst 2010 bekannt – als ein Abbruch bevorstand.
Vielmehr zeigt Gurski auch, „warum einige Stadtgesellschaften, so wie es anscheinend auch in Detmold ist, so große Probleme mit ihrem jüdischen Kulturerbe haben“. Ein Paradigmenwechsel jedenfalls sieht anders aus.
Meine persönliche Meinung zum Festjahr im Sinne der Sprachgenauigkeit, auf die George Steiner so großen Wert legte (siehe sein Buch Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens): Man hatte den Titel „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gewählt, obgleich man wusste, dass er falsch ist. Für das Jahr 321 ist jüdisches Leben in Köln bezeugt. Vermutlich gab es dieses schon früher, nämlich seit die Römer dort zu siedeln begannen. Ein „Deutschland“ jedoch existierte noch Jahrhunderte später nicht. Die Juden sind eben auch hier das ältere Volk. Das aber verschleierte der Name des Festjahres. Ist der Name falsch, ist letztlich alles falsch.
documenta15 und der Israelhass – ein nicht enden wollendes Desaster. Ayala Goldmann schrieb am Mittwoch in der Jüdischen Allgemeinen:
Vor dem Museum Fridericianum war bereits wenige Tage nach Beginn der documenta ein Werk des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit antisemitischen Motiven zunächst verhüllt und kurz darauf abgehängt worden. Nun hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) auf weitere Elaborate mit israelbezogenem Antisemitismus auf der documenta hingewiesen, und zwar im Museum Fridericianum selbst - im Herzen der Kunstschau in Kassel.
Nun fordern der Zentralrat der Juden in Deutschland und das American Jewish Committee (AJC) Berlin, dass die documenta fifteen vorzeitig beendet wird. Josef Schuster: „Dass die Schau bis zum Ende laufen kann, erscheint kaum mehr vorstellbar“.
Diesen Eindruck hat am Freitag der Interims-Geschäftsführer der documenta Alexander Farenholtz weiter verstärkt. Er reagierte auf den Vorwurf der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, den Antisemitismus zu verharmlosen, mit den Worten:
Das kann ich mir schwer erklären, weil ich mich zu der Frage, was Antisemitismus ist und was nicht, zu keinem Zeitpunkt geäußert habe. Ich bin auch der Meinung, dass ich das nicht tun sollte, weil ich nicht die nötige Expertise dazu habe. Deswegen rätsele ich ein bisschen, was ich zu diesem Vorwurf sagen muss. Ich fühle mich nicht angesprochen.
Er bringt damit zum Ausdruck, dass künftig nur noch „Experten“, Menschen mit „Expertise“, Antisemitismus feststellen sollten. Das einzige Versäumnis der documenta sieht er darin, die „Artefakte“ aus Algerien nicht ausreichend „kontextualisiert“, also dem documenta-Besucher erklärt zu haben.
In Österreich findet seit 1998 alljährlich am 5. Mai der nationale Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus statt. Er erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus und die Befreiung des KZ Mauthausen. Bei der diesjährigen Gedenkfeier im österreichischen Parlament war die Berliner Antisemitismusforscherin Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel als Hauptrednerin eingeladen. Sie forderte eindrücklich, Einspruch gegen die heutigen Erscheinungsformen des Antisemitismus zu erheben. Sie machte deutlich, dass Judenfeindschaft kein Randgruppen-Phänomen ist. Die Rede ist nicht nur durch die jüngsten Ereignisse von Kassel hochaktuell. Ohne die erst danach, am 18. Juni, eröffnete „Weltkunstausstellung“ ausdrücklich zu benennen, liest du darin, dass Frau Schwarz-Friesel sie mit gemeint hat.
Falls du Monika Schwarz-Friesel lieber zuhörst, kannst du das hier tun (für den Ton auf das Lautsprechersymbol klicken):
Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Seelisberg ist ein Dorf am Vierwaldstättersee. Darüber thront das frühere Hotel Kulm. Dass dort in den ersten Augusttagen des Jahres 1947 Religionsgeschichte geschrieben worden ist, ist heute über Fachkreise hinaus wenig bekannt. Damals fand im Hotel die „Internationale Dringlichkeitskonferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus“ statt. Die Seelisbergkonferenz gilt heute als Wiege des jüdisch-christlichen Dialogs.
Ziel der Konferenz war, den Antisemitismus auf allen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Ebenen zu bekämpfen. Dafür trafen sich rund 70 Personen aus 19 Ländern. Die jüdischen Teilnehmer machten die grösste Gruppe aus, gefolgt von den protestantischen Teilnehmern. Katholisch waren neun Personen.
Besonders wichtig war die Teilnahme des Franzosen Jules Isaac, der bis auf den Sohn seine Familie im Holocaust verloren hatte. Er bereitete das 1948 erfolgte Erscheinen seines Buches Jésus et Israël vor, das er während des Kriegs „von Zufluchtsstätte zu Zufluchtsstätte“ geschrieben hatte. Darin finden sich 28 Lehrsätze darüber, was sich in der Kirche und in der Theologie ändern muss, damit ihre Judenfeindschaft verschwindet. Daraus hatte Isaac 21 Thesen formuliert, die zur Grundlage der schließlich verabschiedeten Zehn Thesen von Seelisberg wurden.
Die zehn Thesen von Seelisberg
Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht.
Es ist hervorzuheben, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israels geboren wurde, und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst.
Es ist hervorzuheben, dass die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren.
Es ist hervorzuheben, dass das höchste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme.
Es ist zu vermeiden, dass das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen.
Es ist zu vermeiden, das Wort «Juden» in der ausschließlichen Bedeutung «Feinde Jesu» zu gebrauchen oder auch die Worte «die Feinde Jesu», um damit das ganze jüdische Volk zu bezeichnen.
Es ist zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Tatsächlich waren es nicht alle Juden, welche den Tod Jesu gefordert haben. Nicht die Juden allein sind dafür verantwortlich, denn das Kreuz, das uns alle rettet, offenbart uns, dass Christus für unser aller Sünden gestorben ist. Es ist allen christlichen Eltern und Lehrern die schwere Verantwortung vor Augen zu stellen, die sie übernehmen, wenn sie die Passionsgeschichte in einer oberflächlichen Art darstellen. Dadurch laufen sie Gefahr, eine Abneigung in das Bewusstsein ihrer Kinder oder Zuhörer zu pflanzen, sei es gewollt oder ungewollt. Aus psychologischen Gründen kann in einem einfachen Gemüt, das durch leidenschaftliche Liebe und Mitgefühl zum gekreuzigten Erlöser bewegt wird, der natürliche Abscheu gegen die Verfolger Jesu sich leicht in einen unterschiedslosen Hass gegen alle Juden aller Zeiten, auch gegen diejenigen unserer Zeit, verwandeln.
Es ist zu vermeiden, dass die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder» behandelt wird, ohne daran zu erinnern, dass dieser Schrei die Worte unseres Herrn nicht aufzuwiegen vermag: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», Worte, die unendlich mehr Gewicht haben.
Es ist zu vermeiden, dass der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei.
Es ist zu vermeiden, die Tatsache unerwähnt zu lassen, dass die ersten Mitglieder der Kirche Juden waren.
Weitere interessante Informationen findest du in einem Interview mit Martin Steiner, Assistent am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern. Steiner berichtet dort auch von der wichtigen Begegnung des inzwischen 83-jährigen Jules Isaac mit dem nur wenige Jahre jüngeren Papst Johannes XXIII. im Juni 1960. Er übergab dem Papst dort u.a. die „Zehn Thesen“ und fragte, ob er hoffen könne, dass eine Erklärung der katholischen Kirche die bisherige „Lehre der Verachtung“ des Judentums verurteilen würde, um sie nachhaltig zu überwinden. Johannes XXIII. antwortete darauf: „Sie haben Recht auf mehr als eine Hoffnung.“ Drei Monate später beauftragte der Papst den deutschen Kardinal Augustin Bea, mit Isaac einen Text für eine solche Erklärung zu entwerfen. Sie mündete schließlich ein in die Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Rabbiner Dr. Jehoschua Ahrens, den du vom freitäglichen „Wort zum Schabbat“ von ahavta - Begegnungen kennst, hat übrigens seine Dissertation über „Seelisberg“ geschrieben. Sie ist 2020 als Buch unter dem Titel „Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited. Die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und in Kontinentaleuropa“ erschienen. Eine Besprechung findest du hier.