ahavta+ erfragt die Bedeutung des Schächtens
Der Tierschutz hat in der Europäischen Union einen höheren Wert als das Recht von Juden, nach der Tora zu leben.
Was bedeutet eigentlich Schächten?
In Folge 13 der Videothek jüdischen Lebens habe ich mit Rabbiner Andrew Steiman über das Schächten gesprochen, die Schlachtung von Tieren nach jüdischem Ritus.
Er erläutert: Der Mensch soll sich ethisch ernähren und das Schächten ist eine ethisch bewusste, eine schmerzlose und peinlich genau durchgeführte Weise der Tötung eines Tieres zu dem Zweck, das Fleisch dieses Tieres zu essen. Das Gegenteil sei das „Reissen“ eines Tieres, wie es etwa ein Wolf oder ein Fuchs tut. Dies ist verboten.
Der hoch konzentriert und nach genauen Regeln durchgeführten Schächtung stellt Rabbiner Steiman die Schilderung der industriell durchgeführten Tötung in einem Schlachthof gegenüber: Das seien „arme Schweine“.
Das Schächten sei hingegen Teil einer jüdischen Philosophie der Ernährung: „Du bist, was du isst.“ Im Sinne dieser Philosophie erläutert Rabbiner Steiman auch, weshalb im Judentum keine Schweine geschlachtet und gegessen werden.
In den Schlachthöfen wird nicht nur das Tier, sondern auch unser Gewissen betäubt
Schächten oder Schechita (hebräisch שחט šacḥaṭ, deutsch ‚schlachten‘) ist das rituelle Schlachten von im jeweiligen Ritus zugelassenen Schlachttieren.
Das jüdische Schächten erfolgt ohne vorgängige Betäubung des Tieres, da nach jüdischer Auffassung das Tier durch die Betäubung verletzt und das Fleisch dadurch zum Verzehr unbrauchbar wird.
Mit der Schechita wird ein das Leid des Tieres möglichst gering haltendes Tötungsverfahren angestrebt. Das halachisch korrekte Schächten besteht aus einem Halsschnitt, der bei Säugetieren durch Luftröhre und Speiseröhre, bei Vögeln durch eine von beiden gehen muss. Der Schnitt muss ohne die geringste Unterbrechung mit einem scharfen, glatten und schartenfreien Messer ausgeführt werden.
Am 30. September 2021 entschied der belgische Verfassungsgerichtshof: Das Verbot von Schächten ohne eine vorherige Betäubung der Tiere verstößt nicht gegen die Verfassung. Flandern und die Wallonie hatten ein entsprechendes Verbot eingeführt.
Der Verfassungsgerichtshof folgte damit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Der hatte Ende 2020 geurteilt, dass Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch bei rituellen Schlachtungen wie Schächtungen aus Gründen des Tierschutzes eine Betäubung vorschreiben können.
Der Verfassungsgerichtshof erkennt zwar an, dass dadurch die Freiheit der Religionsausübung jüdischer (und auch muslimischer) Gläubiger eingeschränkt werde. Der Schutz von Tieren als Wesen, die beispielsweise Furcht und Schmerz empfinden könnten, sei aber ein legitimes und zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis. Es gebe einen wissenschaftlichen Konsens, der bestätige, dass eine vorherige Betäubung die beste Methode sei, um das Leiden der Tiere so gering wie möglich zu halten.
Das Recht auf Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit müsse aber immer im Kontext der heutigen Zeit und Gesellschaft interpretiert werden. In der belgischen und auch in anderen Gesellschaften werde dem Schutz von Tieren daher ein hoher ethischer Wert zugebilligt.
Der Tierschutz hat also heute in der Europäischen Union einen höheren Wert als das Recht von Juden, nach der Tora zu leben.
In nahezu allen Reden zum Festjahr „2021 Jüdisches Leben in Deutschland“ wird das jüdische Erbe beschworen und das Glück benannt, dass es 76 Jahre nach der Schoa wieder ein blühendes jüdisches Leben im Herzen Europas gebe. Gleichzeitig hat die immer säkularer werdende Gesellschaft in Deutschland und anderen europäischen Staaten zunehmend Probleme mit bestimmten Fragen religiöser Vollzüge. Das gilt nicht nur für rituelle Fragen, sondern auch für religiöses Bedürfnis und Empfinden überhaupt.
Die richterlichen Entscheidungen in Luxemburg und Brüssel folgen dieser Entfremdung. Die Feststellung, dass der Tierschutz Vorrang haben dürfe vor der Religionsfreiheit, steht dabei völlig isoliert: Ali Bricman, die Direktorin für EU-Angelegenheiten von B'nai B'rith International, weist richtig darauf hin:
In Belgien darf nicht mehr koscher geschlachtet werden, aber Sie können trotzdem gerne im Namen des Tierschutzes Gänseleberpastete und die Sportjagd genießen.
Ausgerechnet den Tierschutz an die Spitze aller Rechte zu stellen (inzwischen wohl eher an die zweite Stelle, nachdem der Gesundheitsschutz in Europa alle Freiheitsrechte einschränken konnte), bleibt so lange halbherzig, wenn nicht verlogen, wie Fleischfabriken und Massentierhaltung selbstverständlich sind.
Das Schächten ist schon zahlenmäßig völlig marginal im Vergleich zu einer einzigen der Fabriken, in denen mit chemischen Präparaten zugedröhnte Tiere industriell getötet und verarbeitet werden und allein das Diktat billiger Fleischpreise zählt.
Daher kritisierte der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, zu Recht die Urteile: Der Gerichtshof der Europäischen Union habe „ein potenziell tödliches Hindernis für das weitere jüdische Gemeinschaftsleben in Europa gelegt“. Es gehe nicht um den Tierschutz, sondern um die Unterdrückung der Religionsfreiheit, die in Artikel 10 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta garantiert ist.
Dokumente zum Jom-Kippur-Krieg veröffentlicht
Am Sonntag habe ich im freien Newsletter auf den Beginn des Jom-Kippur-Krieges vor 48 Jahren zurückgeblickt. Erst danach wurde bekannt: Zu diesem Jahrestag am 6. Oktober hat das Israelische Staatsarchiv 61 historische Dokumente mit 1229 Seiten veröffentlicht. Das jüdische Wochenmagazin Tachles schrieb dazu am 7.10.2021:
Diese Dokumente zeigen in «Echtzeit», was sich im Kriegskabinett von Premierministerin Golda Meir abgespielt hat. Der Krieg kam für Israel als Überraschung, aber eigentlich eben doch nicht. Der damalige Mossad-Chef Zvi Zamir hatte in Ägypten einen Mann angeworben, der für Israel spionierte. Sein Name: Ashraf Marwan. Dieser hatte Zamir ein Codewort geschickt, demzufolge Krieg unmittelbar bevorstünde. Zamir und Marwan trafen sich daraufhin in London. Während des gesamten Krieges konnte Marwan Zamir mit Informationen füttern. Israel plante eine Überquerung des Suez-Kanals, um auf ägyptischer Seite zuzuschlagen und so den Ägyptern psychologisch das Genick zu brechen. Doch dann erfuhren Meir und die anderen Kabinettsmitglieder über Zamir, dass die ägyptische Armee in den Sinai hineinwollte, um strategische Positionen zu erobern. Mit dieser Information konnte Israel dann agieren und schlug die ägyptische Armee in einer brutalen Panzerschlacht - und setzte dennoch hinüber auf die ägyptische Seite des Suez-Kanals. Ein weiteres Problem, das Israel und den Amerikanern, insbesondere den damaligen US-Aussenminister Henry Kissinger nervös machte: Die Gefahr, dass Ägypten Israel mit Scud-Raketen der UdSSR angreifen würde. Allerdings nur, wenn Israel zivile Ziele bombardieren werde. Doch zunehmend bestand die Gefahr, dass sich die Russen selbst in den Krieg einmischen könnten, weil sie sahen, dass ihr Verbündeter dabei war, den Feldzug zu verlieren. Die Dokumente machen deutlich, dass die Welt möglicherweise am Rande eines Dritten Weltkriegs stand. Zum Glück ist es dazu nicht gekommen. Im Gegenteil, Ägypten und Israel schlossen Frieden. Und der hält bis heute.
Die Familie ist „gegen Israel“
Schon wenn man öffentlich Solidarität mit Israel bekundet oder sich als Jude oder Israeli zeigt, bringt man sich in Deutschland, jedenfalls in Berlin oder Hamburg, in Gefahr.
Ein ehemaliger israelischer Soldat wurde vorgestern in der Hauptstadt angegriffen, was die Polizei am Samstag als einen antisemitischen Vorfall bezeichnete. Der 29-jährige trug einen Pullover mit dem Emblem der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte und wandte sich einer Person zu, die ihn „auf seinen Glauben ansprach“, so die Polizei. Anschließend sei ihm ein Reizgas ins Gesicht gesprüht worden und er stürzte zu Boden. Der Angreifer oder die Angreifer flohen.
Mitte September war in Hamburg ein 60-jähriger Teilnehmer einer Mahnwache für Israel und gegen Antisemitismus in der Innenstadt durch eine Gruppe Menschen mit „südländischer Erscheinung“, wie es die Polizei politisch korrekt ausdrückte, angegriffen und so stark verletzt worden, dass er mehrfach im Gesicht operiert werden musste und wegen eines Glassplitters seiner Brille im Auge wohl bleibende Schäden behalten wird.
Nach zehn Tagen wurde der 16-jährige Aram A. in Berlin-Wedding aufgespürt. Er gestand die Tat, wurde aber wegen „fehlender Haftgründe“ nicht festgenommen. Er soll in Begleitung weiterer junger Männer die Teilnehmer der Mahnwache als „Hurensöhne“ und „Scheiß-Juden“ beleidigt haben. In den Berliner Polizeimeldungen hieß es lediglich, bei dem aufgefundenen Tatverdächtigen handle es sich „um einen 16-jährigen Deutschen“. Weitere Hintergründe zum Täter finden sich dort nicht.
Die Mutter des Verdächtigen teilte mit, dass ihre Familie „gegen Israel“ sei. „Aber was mein Sohn getan hat, ist falsch.“
Mit dem Eindruck, dass hingegen bei uns einiges falsch läuft, wünsche ich dir einen friedlichen Sonntag und grüße dich
herzlich, Dein Ricklef