ahavta+ „Sag, dass Jerusalem ist“
Im Gespräch, als mein Du, antwortete Rabbiner Andrew Steiman auf diese Frage, indem er auf die Missverständlichkeit der Begriffe Alt und Neu hinwies. Das jüdische Alte Testament sei unter diesem Namen eigentlich ein christliches Buch, insofern es vom Neuen Testament her und auf dieses hin gelesen werde. Das christliche Neue Testament hingegen sei ein eminent jüdisches Werk, da die Autoren seiner einzelnen Schriften allesamt Juden gewesen seien. Heute gebe es sowohl Juden, die das NT aufgrund seiner Wirkungsgeschichte „nicht einmal mit der Kneifzange“ anfassen würden, wie auch Versuche, eine Unbefangenheit zurückzugewinnen.
Meine Frage war die sechste in der Videothek des Judentums, die du dir nach und nach und exklusiv bei ahavta+ aufbauen kannst. Die bisherigen lauteten:
Vielleicht hält Gott sich einige Dichter, damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Ordensleuten abhanden gekommen ist.
Kurt Marti, selber Lyriker und Theologe, schrieb das 1984. Paul Celan gehört, falls das stimmt, jedenfalls zu diesen Dichtern. Am 30. September 1969, knapp sieben Monate vor seinem Tod in der Seine von Paris, reiste Paul Celan nach Israel, erstmals. Zwei Wochen später hält er in Tel Aviv eine kurze Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband. Er beginnt sie mit den Worten: „Ich bin zu Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das gebraucht habe.“ Entsprechend ist das unter dem Eindruck seines Besuches der Stadt Jerusalem entstandene Gedicht nicht zeitlos, sondern von aktueller und biografischer Bedeutung:
Die Pole / sind in uns, / unübersteigbar / im Wachen, / wir schlafen hinüber, vors Tor / des Erbarmens, / ich verliere dich an dich, das / ist mein Schneetrost, / sag, daß Jerusalem ist, / sag's, als wäre ich dieses / dein Weiß, / als wärst du / meins, / als könnten wir ohne uns wir sein, / ich blättre dich auf, für immer, / du betest, du bettest / uns frei.
Das Du in diesem Gedicht dürfte Ilana Shmueli sein, als Liane Schindler die Jugendfreundin des Paul Antschel in Czernowitz, jener Stadt, die wegen der Dichte ihres jüdischen Lebens auch Jerusalem am Pruth oder das Jerusalem der Ukraine genannt wurde. Das Wiedersehen mit der Geliebten prägt nun Celans Begegnung mit Jerusalem am Zion. In der Tradition jüdischer Jerusalemdichtungen wirbt Celan in mehreren Gedichten ebenso um die Stadt auf dem Berge wie um das Du Ilanas.
So hermetisch die Gedichte Paul Celans auf den ersten Blick scheinen, sind sie es doch nicht mehr als die Jerusalem-Pijjutim längst vergangener Jahrhunderte. Diese werden immer noch und heute im jüdischen Gottesdienst gesungen und vorgetragen. Auch Paul Celans Verse wollen wieder und wieder gelesen werden und sich darin Zug um Zug „aufblättern“. Der katholische Theologe Karl Rahner schreibt in seinem Aufsatz „Das Wort der Dichtung und der Christ“:
Und also ist es wahr: Die Fähigkeit und die Übung, das dichterische Wort zu vernehmen, ist eine Voraussetzung dafür, das Wort Gottes zu hören. ... Das Dichterische ist in seinem letzten Wesen Voraussetzung für das Christentum.
Am 9. Oktober 1969 las Paul Celan im Jerusalemer Beit Agron aus seinen Gedichten. Von dieser Lesung gibt es eine Aufzeichnung, die du hier hören kannst:
Das tatsächliche Jerusalem ist nicht das Jerusalem, das ist. Das Jerusalem, das ist, ist zu finden in Gedichten, in Pijjutim, in Geschichten der Erwartung und der Hoffnung. So zum Beispiel auch in Offenbarung 21 im Neuen Testament.
Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, schön wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat. Und vom Thron her hörte ich eine mächtige Stimme rufen:
»Seht, die Wohnung Gottes ist jetzt bei den Menschen!
Gott wird in ihrer Mitte wohnen;
sie werden sein Volk sein – ein Volk aus vielen Völkern,
und er selbst, ihr Gott, wird immer bei ihnen sein.
Er wird alle ihre Tränen abwischen.
Es wird keinen Tod mehr geben,
kein Leid und keine Schmerzen,
und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein.
Denn was früher war, ist vergangen.«
„Sag, dass Jerusalem ist.“ Jerusalem ist ein Zeichen, ein Zeichen, das wir uns zusagen sollen, für das, was Wirklichkeit werden soll und wird. Darum ist die Stadt Jerusalem in gewissem Sinne auch transportabel. Darum gibt es das Jerusalem der Ukraine ebenso wie das Jerusalem des Westens, das Jerusalem am Rhein.
Bestimmte Bedingungen freilich müssen erfüllt sein – Hör- und Lernbereitschaft, das mir zusprechende Du, die Orientierung auf das biblische Wort bzw. das Wort der Tora, die Übung, den Dichtern zu lauschen.
Dem Geheimnis des Jerusalems des Westens nachzuspüren, lade ich dich ein. Bei meiner Reise in die Städte Speyer, Worms und Mainz, die sogenannten SchUM-Städte, von Sonntag, 29. 08., bis Freitag, 3. 09. 2021. Hier ist das Programm:
Erlösung wird sein, wenn das tatsächliche Jerusalem und das Jerusalem, das ist, überein gekommen sind, eins geworden sind.
Darum muss, wer auf Erlösung hofft, auf Jerusalem hoffen, auch nach Jerusalem reisen.
Rabbiner Dr. Jehoschua Ahrens hat in einem schönen Beitrag die Zentralität des Landes Israel für das Judentum in den Zusammenhang des modernen Staates Israel gestellt. Für heute meinen Brief an dich abschließend stelle ich ihn dir zur Verfügung; er erschien in der „Arbeitshilfe zum Israelsonntag 2018“ des Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Ahrens endet dort mit den Worten (Hervorhebung von mir):
…nachdem eine Minderheit an Juden nach Israel zurückgekehrt ist, wird nach der Befreiung Jerusalems die Mehrheit der Juden in ihr Heimatland zurückkehren, so wie es in den Psalmen (147,2) steht: „Gott baut Jerusalem wieder auf; dann wird Er die Verstreuten in Israel sammeln“, so im Talmud (B’rachot 49a). Jerusalem wird also der Schlüssel sein; von dort wird die Erlösung ausgehen. Übrigens nicht nur für uns Juden, sondern nach christlichem Verständnis auch für die Christen. Jerusalem und das Land Israel sind also der Gradmesser der Erlösung.
Danke, dass du Mitglied bist!
Herzlich, Dein Ricklef