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Das Beispiel der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
In deren Namen hat ihr Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in einem Schreiben der ganzen Gemeinde der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg mit ihren Mitgliedern und Mitarbeitenden sowie dem ganzen Volk Israel „die herzlichsten Segenswünsche für das jüdische Jahr 5783“ ausgesprochen. Darin bringt er „unsere tiefe Verbundenheit zum Ausdruck“.
Diese Verbundenheit „geschieht“ für Bischof Gohl auf zweierlei Weise. Die erste ist eigentlich eine distanzierte, denn sie „geschieht im Respekt vor den unterschiedlichen Traditionen, aus denen wir schöpfen.“ Sollte ein Christ in der Nachfolge des jüdischen Messias Jesus von Nazaret nicht eher Liebe zu den gewiss unterschiedlichen Traditionen des Hauses Israel empfinden anstatt nur Respekt?
Gemeinsamkeit benennt der Landesbischof in der zweiten Verbundenheit. Denn sie „geschieht (…), weil die hebräische Bibel auch für uns als Evangelische Landeskirche in Württemberg ein Schatz tiefer Erkenntnis des Weges und Willens Gottes mit seiner Welt ist.“ Bischof Gohl überspringt einfach den Sachverhalt, dass im Tenach, dem Alte Testament, zuallererst der Weg und Wille Gottes mit seinem Volk Israel zu erkennen ist. Aus Israel die ganze Welt zu machen ist eine christliche Leseweise des Alten Testamentes, in der die Hebräische Bibel universalisiert und verallgemeinert wird (weil die Christen aus allen Völkern sich in Jesus Christus mitgemeint wissen). Diese Universalisierung darf jedoch Israel als ersten und bleibenden Adressaten seiner Bibel nicht übergehen! Anderenfalls muss man Bischof Gohl sagen, dass sich in seiner Neujahrsbotschaft Anklänge eines Antijudaismus finden.
Vermag das Geschehen der Verbundenheit mit den Juden Württembergs schon nicht vollends zu überzeugen, so gilt das ebenfalls für die im Brief genannten Ausdrucksweisen der Verbundenheit. Denn diese zeigt sich nicht umfassend, sondern recht spezifisch (und grammatisch etwas merkwürdig) „in der Solidarität für die israelitische Religionsgemeinschaft, für die jüdischen Gemeinden und alle Menschen jüdischen Glaubens (…), die in unserem Land Opfer von Anfeindungen, Ausgrenzung und Gewalt werden.“ Warum kommen Juden hier lediglich als „Opfer“ in den Blick? Mich würde viel mehr interessieren, wie sich evangelische Verbundenheit mit den Juden zeigt, wenn diese einmal nicht (mehr) nur Opfer sind.
Aber von solcher positiven Verbundenheit weiß die württembergische Landeskirche zu Rosch HaSchana nicht viel zu sagen. Vielmehr rechnet sie es sich bereits an, dass sie „bereits im Vorfeld der Vollversammlung“ des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe „einen Boykott Israels ab(gelehnt)“ hat.
Das Beispiel der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Bistümer in Nordrhein-Westfalen
Überbetont nach meinem Empfinden bereits die württembergische Landeskirche den Opferstatus von Juden in Deutschland, so treiben die Kirchen auf dem Gebiet des größten Bundeslandes dies in ihrem „Grußwort … zu Rosch HaSchana 5783“ auf die Spitze. Der „biblische Gruß, der uns verbindet“, nämlich „Schalom“ – „Friede sei mit euch“, rahmt dieses Grußwort und steckt sein Thema „Krieg …, Flucht und Vertreibung“ als derzeitige Abwesenheit von Frieden ab.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine und die weiteren Konflikte „in vielen Krisengebieten der Erde“, erinnern die Kirchen „auf schmerzliche Weise daran, dass die Situation von Flucht und Vertreibung für Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte hinweg zu ihrer Geschichte gehörte.“ Das stimmt zwar ebenso wie die Feststellung, dass Christinnen und Christen „oft für Flucht und Vertreibung, für Unsicherheit und Ungerechtigkeit verantwortlich waren“. Doch zwei der wichtigsten Feste des jüdischen Volkes ausschließlich unter dem Aspekt der Flucht wahrzunehmen, verkehrt deren Kern geradezu ins Gegenteil.
„An Pessach wird beispielsweise der Flucht aus Ägypten gedacht, zu Sukkot sitzen Jüdinnen und Juden in der Laubhütte und denken an die 40-jährige Wanderung durch die Wüste“. Pessach ist lediglich insofern ein Gedenken der Flucht, als der Aufbruch in die Freiheit in Eile, also fluchtartig, erfolgte und so keine Zeit mehr zur Säuerung des Brotes blieb, weshalb an Pessach die Mazzot und nur Ungesäuertes genossen wird. Ansonsten aber ist Pessach das Fest der Befreiung aus Unterdrückung durch die starke Hand Gottes. Es ist also ein Fest, welches Erlösung aus Knechtschaft zum Inhalt hat.
Wenn du meinst, ich würde hier das Grußwort der Kirchen mit der „Goldwaage“ wiegen, so zeige ich dir, dass meine Beobachtung durchaus Folgen zeitigt: Da das jüdische Volk in diesem Text auf das Opfersein inmitten von Flucht und Vertreibung reduziert wird, hat der Staat Israel, der jetzt eine sichere Heimstätte für alle Juden ist und insofern den Keim von Befreiung und Erlösung in sich trägt, keinen Platz. Im Grußwort wird Israel mit keinem Wort erwähnt!
Zusammengefasst stelle ich fest: Es ist seitens der Kirchen noch ein gehöriges Stück Weg zu gehen, bis Juden und Israel angemessen, und das heißt, nach ihrem eigenen Selbstverständnis wahrgenommen werden.
Gott schlägt an Rosch HaSchana drei Bücher auf: das Buch der Gerechten, der Zaddikim, das Buch der Mittelmäßigen sowie das Buch der Bösen. In diese werden die Menschen eingeschrieben – je nach ihren Taten. Aber an Rosch HaSchana schreibt Gott zunächst nur mit Bleistift, sagt der Thüringer Landesrabbiner Alexander Nachama im Gespräch mit Ricklef Münnich. Dieses wurde in der Zeit des Corona-Lockdowns in der Erfurter Synagoge aufgezeichnet. Zum jüdischen Neujahrsfest kannst du das Video sehen.
Wenn der Mensch in den zehn Tagen zwischen Rosch HaSchana und Jom Kippur Buße tut, Teschuwa übt, so nimmt Gott seinen „Radiergummi“ und korrigiert die Eintragung hin zum Buch des Lebens.
Im Weiteren erläutert Rabbiner Nachama, was Teschuwa bedeutet und wie sie der Tora gemäß zu verstehen ist.
Von Rosch HaSchana bis Jom Kippur sind es zehn Tage. Zehn Tage der Selbstprüfung und der Umkehr zu Gott. Rabbiner Jonathan Sacks s''l schreibt in der Einführung zu seinem Büchlein „Zehn Tage, zehn Wege. Wege zur göttlichen Gegenwart“ von 2007 (auszugsweise):
Suche Gott, wo er zu finden ist, rufe ihn, wenn er nahe ist.
Die Weisen waren über diesen Vers verblüfft. Wann ist Gott nicht nahe? Gott ist doch sicher überall. Ihre Antwort war tiefgründig. Gott ist uns immer nahe, aber wir sind Gott nicht immer nahe. Wann sind wir ihm nahe?
In den zehn Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur.
Warum ist Gott an diesen Tagen nahe? Weil wir dann, wenn wir darum bitten, in das Buch des Lebens eingeschrieben zu werden, am tiefsten über unser eigenes Leben nachdenken. Was habe ich erreicht? Was habe ich nicht erreicht? Was habe ich falsch gemacht? Wie kann ich es wieder gut machen? Was ist meine Aufgabe im Leben? (…)
Gott ist uns immer nahe, aber wir sind ihm nicht immer nahe. Wie kommen wir ihm dann nahe? Manche Religionen gehen davon aus, dass wir zunächst eine Erfahrung mit Gott machen und uns dann entscheiden, ein religiöses Leben zu führen. Im Judentum gehen wir vom Gegenteil aus: Zuerst führen wir ein religiöses Leben; erst dann, langsam und zögernd, beginnen wir, die Erfahrung zu machen. „Wir werden tun, dann werden wir verstehen“, sagten unsere Vorfahren am Berg Sinai. So ist es in allen Angelegenheiten der Seele. Wir lernen, Musik zu lieben, indem wir Musik hören. Wir lernen, großzügig zu sein, indem wir großzügige Taten vollbringen. „Das Herz folgt der Tat“, heißt es im mittelalterlichen Klassiker Sefer haChinuch. Erwarte nicht, dass du Glauben hast oder Gott findest, indem du darauf wartest, dass er uns findet.
Wir müssen uns auf den Weg machen. Dann begegnet Gott uns auf halbem Weg.
Es gibt viele Wege, Gott zu finden, viele Wege zur göttlichen Gegenwart. Manche werden von jüdischer Musik bewegt, andere von jüdischer Geschichte, wieder andere von jüdischer Literatur und Kunst. Einige wieder entdecken ihre Wurzeln, indem sie an die Orte reisen, an denen ihre Vorfahren lebten; andere, indem sie für die Gemeinschaft arbeiten, gegen Antisemitismus kämpfen, Spenden für wohltätige Zwecke sammeln oder sich ehrenamtlich für unsere Sicherheit einsetzen. Es spielt keine Rolle, wo wir anfangen, Hauptsache, wir fangen an. Das jüdische Leben ist der Umfang eines Kreises, in dessen Zentrum Gott steht. Dort treffen wir uns, ganz gleich, wo wir beginnen. (…)
(E)s gibt so viele Wege zur göttlichen Gegenwart, wie es Juden gibt, sagte Raw Nachman von Brazlaw. Oder wie ich es ausdrücke: Wo sich das, was wir tun wollen, mit dem trifft, was getan werden muss, da will Gott uns haben.
Wie lange wir auch leben, das Leben ist kurz, zu kurz. Jeder Tag ist wichtig. Jeder Tag, an dem wir nicht eine gute Tat vollbringen, einen Schritt auf Gott zugehen, ist ein vergeudeter Tag – und unsere Tage auf Erden sind zu kurz, um auch nur einen zu vergeuden. Möge Gott dich im kommenden Jahr segnen, und möge er uns alle segnen, mit Frieden, mit Gesundheit, mit Glück, mit Leben.
Im Frühjahr habe ich dir die „Zehn Wege zu Gott“, wie sie nach dem Tod von Rabbiner Jonathan Sacks als „Studienplan“ neu herausgegeben wurden, bereits in zehn aufeinander folgenden Wochen vorgestellt. Heute gebe ich dir diese Texte erneut, jedoch zusammengefasst in einer Broschüre. Vielleicht nutzt du – ob Jude oder Christ – diese zehn Wege in den kommenden zehn Tagen, einen Schritt nach dem anderen, für deine eigene Besinnung und Meditation – und im Gedenken an und in Dankbarkeit für einen großartigen Lehrer jüdischen Lebens und jüdischer Existenz unserer Zeit.