ahavta+ und der „Ort, an dem wir Recht haben“
Der israelische Dichter Jehuda Amichai wurde 1924 in Würzburg in einer „orthodoxen“ jüdischen Familie geboren. Sein Vater nahm ihn schon früh mit in die Synagoge zum Morgengebet. Seine Erfahrungen machen ihn später zu einem Poeten, in dessen Gedichten Gott immer wieder präsent ist, aber als Gott, der es schwer hat mit ihm: „Es ist schwer für ihn, mir seine Welt zu preisen.“
Nach Auschwitz keine Theologie. / Aus den Kaminen des Vatikans steigt weißer Rauch empor. / Ein Zeichen, dass sich die Kardinäle einen neuen Papst gewählt haben. / Von den Krematorien in Auschwitz steigt schwarzer Rauch empor. / Ein Zeichen, dass Gott noch nicht sein auserwähltes Volk gewählt hat. / Nach Auschwitz keine Theologie. / Die auf den Unterarmen eintätowierten Nummern der für die Vernichtung bestimmten Häftlinge, / sind die Telefonnummern Gottes. / Nummern ohne Antwort und nun ohne Anschluss.
Yehuda Amichai möge daher bei ahavta+ heute zuerst genannt sein. Für diejenigen Juden, die immer wieder reflektieren über das Judesein – jedoch die Bahnen eines überlieferten Judentums verlassen haben.
In einer ahavta+ Ausgabe über Definitionen und ihre Fraglichkeiten begegnet Jehuda Amichai jedoch auch als Autor eines Gedichtes, welches sogar vom Obersten Gerichtshof des Staates Israel in einer Urteilsbegründung zitiert worden ist:
An dem Ort, an dem wir recht haben, / werden niemals Blumen wachsen / im Frühjahr. / Der Ort, an dem wir recht haben, / ist zertrampelt und hart / wie ein Hof. / Zweifel und Liebe aber / lockern die Welt auf / wie ein Maulwurf, wie ein Pflug. (…)
Ich empfehle dir den folgenden Hörfunkbeitrag, der zum 20. Todestag Jehuda Amichais, gestorben am 22. September 2000 in Jerusalem, gesendet wurde:
Sendung Lebenszeichen von WDR 5. Autor: Burkhard Reinartz
Rabbiner Steiman kennst du von seinen „Worten zum Schabbat“ bei ahavta - Begegnungen. Sein Großvater nahm ihn schon früh mit in die Synagoge. „Großvater, den wir nicht Opa, sondern ‚Papa’ nannten, hatte seinen Stammplatz in den hinteren Reihen unserer Synagoge im Stadtteil Queens in New York.“
Ohne dass der Junge es begriff, war Auschwitz auch hier, eine Generation nach Jehuda Amichai präsent: „In meinem Jahrgang gehörte ich zu den ganz wenigen in unserer Synagoge, die tatsächlich Großeltern hatten - echte, leibhaftige Großeltern.“
Mit diesen Worten beginnt ein ganz außergewöhnlicher und außergewöhnlich persönlicher Text von Rabbiner Andrew Steiman. Er erscheint demnächst als Podcast. Mit seinen ausdrücklichen Grüßen an dich als Leser von ahavta+ macht er dir seinen Beitrag zugänglich.
Wenn Jehuda Amichai ein Poet und Jude zwischen Gott und Welt ist, so ist es bei Andrew Steiman der Jom Kippur, der ihn immer wieder zu Gott und zur Welt führt: „Ja, an Jom Kippur wird auch geweint. Irgendwann mal muss man auch weinen – warum nicht vor Gott, vor dem Opa oder vor dem Enkel? Oder vor aller Welt? Schließlich ist Jom Kippur ein Tag, an dem man Rechenschaft ablegen soll – vor sich, vor den Mitmenschen und vor Gott. Tränen können und dürfen dabei auch ruhig fließen.“
Morgen Abend beginnt das jüdische Neujahrsfest, zehn Tage später der Versöhnungstag. Eine Einführung habe ich für dich hier geschrieben:
Sein Vater und sein Großvater nahmen ihn früh mit in die Synagoge. Das ist Rabbiner Andreas Nachama und das war Oberkantor Estrongo Nachama sel.A. Jetzt ist er selbst Rabbiner und die Erfurter Synagoge am Max-Cars-Platz sein religiöses „Zuhause“.
Was eine Synagoge ist und ausmacht, das erklärt dir der Thüringer Landesrabbiner Alexander Nachama in der elften Folge der Videothek des jüdischen Lebens „Frag den Rabbi!“ Er erläutert: Eine Synagoge ist ein „Haus der Versammlung“, hebräisch Bet haKnesset. Weitere Themen sind:
die Gebetsrichtung
das ewige Licht (Ner tamid)
der siebenarmige Leuchter (Menora)
der Toraschrein (Aron kodesch)
die Torarollen
das Tora-Lesepult
das Händewaschen (Netillat jadajim)
Die bislang erschienenen Folgen der Reihe kannst du hier aufrufen und anschauen:
Eine Videothek des jüdischen Lebens
Rabbiner Nachama sagt, eine Synagoge ist ein „Haus der Versammlung“. Früher mehr als heute versammelte man sich dort auch zum Lernen der Tora. Lehrhaus und Synagoge waren einst wohl keine getrennten Orte; vorstellen kann man sich das ganz gut in der Synagoge, die auf Massada ausgegraben und restauriert worden ist.
Eine Erzählung im Talmud Traktat Menachot 29b lässt Mose, dessen Vater ihn nie dorthin mitnehmen konnte, in der Synagoge bzw. im Lehrhaus sitzen, und zwar auf den hintersten Plätzen, die Rabbiner Steiman so schön beschrieb. In der Zeit von Rabbi Akiva, im 2. Jahrhundert, war auch dort ein „Kommen und Gehen“, saßen da doch die neugierigen Anfänger im Studium, während den bereits gelehrten Schülern die Plätze in den vorderen Reihen zukamen. Hier der talmudische Text:
In der Stunde, da Mose zur Höhe hinaufstieg (um die Tora zu empfangen), fand er den Heiligen, gelobt sei er, wie er saß und die Buchstaben (der Tora) mit Krönchen umwand (so wie ein Toraschreiber die Buchstaben der Tora mit kleinen Kronen verziert). Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, wer hält deine Hand zurück? (Gemeint ist: Wer hält dich davon ab, die Tora auch ohne diesen Zierat zu geben) Er sprach zu ihm: Nach einer Reihe von Geschlechtern wird es jemand geben — Akiva ben Josef sein Name —, der wird aus jedem einzelnen dieser Häkchen haufenweise Halachot erforschen. Er sprach vor ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir! Er sprach zu ihm: Wende dich um!
Er ging und setzte sich ans Ende der acht Reihen (im Lehrhaus Akivas), doch er verstand nicht, was sie sagten. Da schwand seine Kraft.
Als er (Akiva) zu einer (bestimmten) Sache kam, sprachen seine Schüler zu ihm: Rabbi, woher hast du das? Er sprach zu ihnen: eine Halacha an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich sein (Moses) Sinn.
Dem Text wohnt eine tiefe Ironie inne. Rabbi Akiva war in seiner Auslegung der Tora der Auffassung, dass kein einziges Wort der Tora überflüssig, gleichsam umsonst geschrieben sei und in diesem Sinne auch kein einziger Buchstabe – nicht einmal das Häkchen auf dem kleinsten Buchstaben, dem Jod (Jota im Neuen Testament, Matthäus 5,18). Daher ist es Aufgabe des Lernens und Auslegens der Tora, bei jedem „Jota und Häkchen“ im geschriebenen Text die ihm innewohnenden Bedeutungen herauszuholen und sichtbar, verstehbar zu machen.
Nur versteht Mose, der doch der erste Empfänger der Tora geworden ist, von all diesen Ergebnissen der Auslegung (welche die mündliche Tora darstellt) gar nichts, als er bei Rabbi Akiva zuhören darf. Er versteht sozusagen „nur Bahnhof“. Sein Sinn beruhigt sich erst, als Rabbi Akiva seinen Schülern auf Nachfrage erklärt, die Lehre, die er ihnen gerade darstellt, sei „Halacha an Mose vom Sinai“ – also identisch mit der Mose am Sinai offenbarten Tora. Denn mündliche und schriftliche Tora sind eins.
Die Erzählung aus dem Talmud ist hier angeführt, weil sie sichtbar werden lässt, wie sich innerhalb des rabbinischen Judentums ein und dieselbe Tora, die „uralte Tora vom Sinai“ immer wieder „verändert“ hat, indem die Lehrer Israels zu allen Zeiten neue und bislang unbekannte Lehren und Ausdeutungen aus ihr gezogen haben. (Vergleiche Matthäus 13,52: „Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“)
Dieser Prozess des aktiven Lernens der Tora ist auch im „orthodoxen Judentum“ zu keiner Zeit abgebrochen (worden). Auch diese Richtung des Judentums ist demnach niemals „stehen geblieben“.
Ich habe in der letzten Woche und heute immer wieder „orthodoxes Judentum“ in Anführung gesetzt. Denn auch dieses ist bis heute in den Reihen des Lehrhauses und der Synagoge Rabbi Akivas zuhause.
In der nächsten Woche will ich mit dir überlegen, ob andere Begrifflichkeiten vielleicht hilfreicher sein können.
Für heute grüßt dich
herzlich, Dein Ricklef