ahavta+ || wie es geht und wie es ausgeht
Im Keller der Alten Synagoge von Erfurt wird heute der jüdische Schatz gezeigt, der wohl 1349 im Zusammenhang des Pogroms gegen die Juden der Stadt versteckt wurde. 1998 ist er unweit der Synagoge unter der Mauer eines Kellerzugangs entdeckt worden.
Neben dem berühmten Hochzeitsring (im Bild unten links) ist eines der besonderen Objekte innerhalb der insgesamt mehr als 700 Einzelstücke des Schatzes ein „Doppelkopf“. Solche Doppelkopfbecher kommen nur im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Süddeutschland, vor. Sie tauchen im 13. Jahrhundert auf und blieben über vierhundert Jahre in ihrer Kernform gleich.
Das silberne Doppelgefäß des Erfurter Schatzes besteht aus zwei nahezu formgleichen und gleichgroßen bauchigen Gefäßen, die so ineinander gesteckt werden können, dass ein Gefäß den Deckel für das andere bildet.
Die Unterseite der Füße der Gefäße ist vergoldet und jeweils mit einem Emailmedaillon mit vergoldetem Rand versehen. Auch im Inneren findet sich je ein Emailmedaillon. Sie zeigen die fein gravierten Darstellungen zweier Tierfabeln unter farbigem, durchscheinendem Email. In je zwei Bildern wird außen die Fabel „Von einem Raben und einem Fuchs“ sowie im Inneren am Boden die Fabel „Ein Fuchs und ein Adler“ dargestellt.
„Von einem Raben und einem Fuchs“: Das erste Bild zeigt den Fuchs, der vor dem Baum sitzt und zu dem Raben hinaufblickt. Dieser halt einen goldenen Käselaib im Schnabel. Auf dem zweiten Bild läuft der Fuchs mit dem Käse im Maul davon, der Rabe sieht ihm mit hinuntergebogenem Hals hinterher.
Diese Fabel wird dem griechischen Dichter Äsop zugeschrieben, der um 600 v.u.Z. lebte.
Ein Rabe hat ein Stück Käse gefunden und sich auf einen Ast zurückgezogen, um es zu verzehren, als ein Fuchs vorbeikommt. Der Fuchs, der den Käse gerne selber hätte, schmeichelt dem Raben, nennt ihn wunderschön und den König der Vögel. Schließlich bittet der Fuchs den Raben, für ihn zu singen.
Von der Schmeichelei des Fuchses unvorsichtig gemacht, beginnt der Rabe zu singen, um zu beweisen, dass er der beste Sänger ist. Als er den Schnabel öffnet, fällt der Käse heraus und der Fuchs fängt ihn auf und frisst ihn. Da lacht er und sagt: Hüte dich vor Schmeichlern!
Auch die Fabel vom Adler und Fuchs entstammt der Sammlung Äsops.
Ein Adler und ein Fuchs hatten Freundschaft geschlossen. Eines Tages raubte jedoch der Adler die Jungen des Fuchses und da dieser ihm nichts anhaben konnte, klagte er ihn bei Gott an. Einst traf es sich denn, dass der Adler Menschen erblickte, die Fleisch auf einem Altar opferten. Da raubte er das noch heiße Fleisch und aß es teils selbst und teils brachte er es seinen Jungen, worauf sowohl er als seine Jungen starben.
Dies lehrt, dass derjenige, welcher sich nicht selbst Recht zu verschaffen im Stande ist, seine Angelegenheit Gott überlassen möge, der ihm schon zu seinem Rechte verhelfen wird.
Der Text dieser Fabel, wie er hier steht – und das macht es nun besonders spannend – steht in einer hebräischen Handschrift derselben Erfurter Gemeinde von vor 1349.
Während des Pogroms gelangten Handschriften der jüdischen Gemeinde in die Hände des Erfurter Rates. Dieser verkaufte einige der Bücher kurz darauf, andere blieben bis zum 17. Jahrhundert im Besitz der Stadt. Später gelangten diese verbliebenen 15 Handschriften ins Erfurter Augustinerkloster. 1880 wurden sie für 5.500 Reichsmark von dort an die Königliche Bibliothek in Berlin, heute Staatsbibliothek zu Berlin, verkauft.
Zu diesem Handschriftenkonvolut gehören vier Tora-Rollen, vier hebräische Bibeln, ein Machsor (Gebetbuch für die Feiertage) und vor allem auch die berühmte Erfurter Tosefta, neben der Tosefta von Wien die einzige nahezu vollständig erhaltene Handschrift dieser Überlieferung aus dem 3. Jahrhundert.
Die Sammelhandschrift „Erfurt 15“ besteht aus 291 Blatt Pergament und misst 22 x 16 cm. Die alte deutsche Quadratschrift weist auf ihre Herstellung im deutschen Raum des 13. Jahrhunderts hin. Der Kodex enthält Gutachten und Korrespondenzen zu vorwiegend halachischen (religionsgesetzlichen) Fragen des frühen Mittelalters sowie von Responsen von Rabbinern aus dem Rheinland des 11. Jahrhunderts. Ein weiterer Teil der Sammelhandschrift enthält insgesamt 67 Fabeln der Sammlung Äsops.
Was machen nun äsopische Fabeln in den Erfurter hebräischen Handschriften? Immerhin sind sie der einzige Teil der 15 Handschriften, der nichts mit der Tora und ihrer Überlieferung und Auslegung zu tun hat! Diese Tatsache ist m.E. noch nicht ausreichend bedacht worden.
Die bisherige Forschung meint, sie seien „in die 'Erfurter Sammlung' der Staatsbibliothek zu Berlin quasi herein gerutscht“. Aber doch nicht zufällig! Der schon zur Zeit des 13./14. Jahrhunderts ungemein wertvolle und künstlerisch einmalige Erfurter „Doppelkopf“ zeigt doch, welche Bedeutung die Tierfabeln in der jüdischen Gemeinde hatten!
Die Antwort, die Fabel sei „aufgrund ihres moralischen Gehalts ein beliebtes Mittel im religiösen Umfeld“ gewesen, bleibt an der Oberfläche. „Während des Mittelalters erfuhren die äsopischen Fabeln große Verbreitung in Europa und übten großen Einfluss auf die jüdische Literatur aus.“ Aber warum?
Meine Antwort auf dem Hintergrund der bisher behandelten bildlichen Darstellungen vom Hasen und dem Jagdhund und vom Raben im Angesicht übermächtiger Verfolger lautet:
Jüdinnen und Juden des Mittelalters erkannten sich mit ihrem eigenen Schicksal als Minderheit in nichtjüdischer Umgebung im erzählten und abgebildeten Tierschicksal der Fabeln. Zugleich sahen sie im Ausgang der jeweiligen Fabel eine noch ausstehende, jedoch erwartete Wendung ihres Schicksals.
Konkret am Beispiel der Bilder des Doppelkopfes: Der Adler hat zwar die Jungen des Fuchses geraubt, aber die Strafe ereilt ihn dennoch. Juden erleiden zwar immer wieder Verfolgung und Tod von Mitgliedern ihrer Gemeinden, doch diese Untaten werden nicht ungesühnt bleiben. Gott wird die Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuführen.
Der Rabe hat zwar mit dem Käse im Schnabel eine glückliche Beute gemacht, doch dem Fuchs gelingt es durch falsche Freundschaft, sie ihm abspenstig zu machen. Die Juden der Erfurter Gemeinde sind zwar – wie nicht zuletzt ihr verborgener Schatz zeigt – durch Handel und Wandel zu Reichtum gelangt, aber sie müssen sich hüten vor falscher Schmeichelei und nur scheinbarer Freundschaft seitens der Nichtjuden. Und 1349 zeigte, dass diese sich tatsächlich nicht nur den „Käse“ geholt haben, sondern den Raben, das heißt die jüdische Gemeinde insgesamt mit erlegt und umgebracht haben.
Wenn du auf die gleiche Weise versuchst, die weiteren hier auszugsweise deutsch wiedergegebenen Tierfabeln der 67 hebräischen äsopischen Sammlung zu interpretieren, wirst du merken, wie diese Art der Deutung geradezu ins Auge springt.
Die Tierfabel bot der jüdischen Gemeinde somit eine ideale Möglichkeit, sich und ihr Schicksal hinter den Bildern der Geschichten sozusagen „zu verstecken“. Denn offen und ungeschützt ließen sich die in den Fabeln ausgedrückten Wahrheiten schwerlich zum Ausdruck bringen und kommunizieren. Die Tierfabel in Bild und Wort war demnach ein „Code“, den Juden untereinander bestens verstanden, und in dem sie sich wiederfanden und mit dem sie sich identifizieren konnten.
Diese Frage habe ich an Rabbiner Andrew Steiman in der Reihe „Frag den Rabbi!“ aus der Erfurter neuen Synagoge von 1952 gestellt.
Das Wort Goi stammt heute aus jiddischem Umfeld, hat aber natürlich seine Wurzel im Hebräischen, sagt Rabbiner Steiman. Es hat eine ziemlich überfrachtete Bedeutung. Ist Goi herablassend gemeint? Ja und nein! So wie das Wort „Jude“ selbst durchaus in unterschiedlicher Weise gebraucht wird: Der Ton macht die Musik, meint der Rabbiner.
Goi heißt Nichtjude und ist eigentlich wertneutral. Die Geschichte von Juden in nichtjüdischer Umgebung hat den Begriff letztlich aufgeladen. Das zeigt Andrew Steiman an mehreren Beispielen.