ahavta+ wünscht Juden leichtes Fasten
In den Synagogen wird Megillat Ejcha gelesen, das biblische Buch der „Klagelieder“, üblicherweise bei Kerzenlicht und während man auf dem Boden sitzt; als Zeichen der Trauer werden keine Lederschuhe getragen. Ejcha beginnt:
Ach, wie liegt einsam die Stadt,
so volkreich sonst!
Wie eine Witwe ist sie geworden,
Die groß war unter den Völkern.
Die Fürstin der Städte
Muss tragen das Joch.
Im Gleichnis vom verlorenen Sohn im Evangelium nach Lukas, (15,11–32) erinnert sich dieser in der Not an seinen Vater und kehrt um. Rabbi Nachman von Brazlaw erzählt ein ähnliches Gleichnis, jedoch mit anderem Ausgang:
Ein König hatte einen Sohn, der Schlimmes getan hatte und vom Königshaus weggeschickt werden musste. Er ging von Ort zu Ort, bis ihm sein Geld ausging. Er verdiente dann sein tägliches Brot mit Feldarbeit in einer fern abgelegenen Region.
Eines Tages sah er, wie sich alle Bauern aufgeregt unterhielten. Der König komme morgen und wer ein Zettel mit einem beliebigen Wunsch in die königliche Kutsche hineinwerfe, dem erfülle der König den Wunsch.
Die ganze Nacht hindurch saß der Königssohn und überlegte, was er sich wünschen solle. Als die Kutsche am nächsten Tag vorbeifuhr, zielte er vorsichtig und warf seinen Zettel. Der König erkannte die Handschrift seines Sohnes sofort. Aber als er den Zettel las, weinte er.
Sein Sohn hatte vergessen, woher er kam und wohin er zurückgehen konnte. Was der Prinz verlangte, war ein einfacher Strohhut, wie ihn die anderen Bauern trugen, so dass die Sonne ihn nicht auf den Kopf stach…
Jeder, der um Jerusalem trauert, wird auch die Freude der Stadt sehen. Der, der nicht um Jerusalem trauert, wird sie nicht erleben. (Talmud Taanit 30b)
Von Napoleon Bonaparte wird erzählt, dass er während seiner Herrschaft an einem Tischa BeAw mit seinen Beratern in den Straßen von Paris spazieren ging. Als sein Gefolge an einer kleinen Synagoge vorbeikam, hörten sie ein Jammern und Weinen aus dem Inneren. Verwundert über die Aufregung schickte Napoleon einen Adjutanten hinein, um sich zu erkundigen, was geschehen war. Der Adjutant kehrte nach ein paar Minuten zurück und erzählte Napoleon, dass der Tempel der Juden zerstört worden war und sie über seinen Verlust trauerten.
Napoleon war empört. „Wie kann es sein, dass ich keine Kenntnis von diesem Ereignis habe? Wo im Reich ist dies geschehen? Wann ist dies den Juden dieser Gemeinde widerfahren und wer waren die Täter?“ Der Adjutant antwortete: „Herr, der Tempel in Jerusalem wurde an diesem Tag vor mehr als 1.700 Jahren zerstört.“
Napoleon stand einen Moment lang schweigend und erstarrt; dann sagte er: „Ein Volk, das so lange um Jerusalem trauern kann, wird es eines Tages zurückerhalten!“
Der Talmud (Makkot 24b) erzählt, wie Rabbi Akiva einmal mit drei anderen Lehrern nach Jerusalem ging. Als sie sich dem zerstörten Tempel nähern, sehen sie einen Fuchs, der aus den Trümmern des heiligsten Bereiches kam. Da beginnen alle zu weinen, Rabbi Akiva aber lacht. Sie fragen ihn, warum er denn lache. Er fragt zurück, warum sie weinten. Sie sagen: „Wenn das Allerheiligste von einem Fuchs betreten wird, sollten wir dann nicht weinen?«
Akiva sagt, dass er eben deshalb lache. Wenn Gott seine Drohung wahrgemacht hat, Zion solle wie ein Feld umgepflügt werden (Micha 3,12), wie sollte er da nicht auch seine Verheißung einlösen: Es werden noch Greisinnen und Greise in Jerusalem wohnen (Sacharia 8,4)?
Da sagen die Freunde zu ihm: „Akiva, du hast uns getröstet, Akiva, du hast uns getröstet.“
Bereits für das 11. Jahrhundert ist belegt, dass am 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest in den Kirchen das Evangelium Lukas 19,41–48 gelesen wurde: „Und als Jesus nahe hinzukam und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient!“
Die Wurzel dieses Brauches kann nur in damals gelebter Nachbarschaft zu Jüdinnen und Juden liegen. Denn dieser Sonntag liegt in der Nähe zum 9. Aw im jüdischen Kalender. Im Evangelium weint Jesus, die Zerstörung Jerusalems vorausahnend. Es ist ein trauerndes, mitfühlendes Weinen. Über die Zeit ist diese Haltung Jesu gegenüber seinem Volk in der Kirche verloren gegangen. Sie wich Hochmut und Überhebung: „Seht, wie Gott Israel gestraft hat, uns aber hat er erwählt!“ Hiergegen ist der Apostel Paulus zu hören: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“ (1. Korinther 12,26).
Wenn die christliche Gemeinde über Jahrhunderte im Mitleiden und Mittrauern versagt hat – sollte sie sich dann nicht wenigstens heute mitfreuen, jetzt, da das jüdische Volk nach fast 2000 Jahren frei und selbstbestimmt in seinem Land, im Staat Israel leben kann?
Wenn im Krieg gegen die Römer auch Hunderttausende zu Tode kamen, als Volk haben die Juden diese Katastrophe überlebt. Vergessen haben sie sie jedoch nicht. Der Tag der Zerstörung Jerusalems und des Tempels wurde zu einem Tag der Trauer und Klage - bis heute. Die Erinnerung an dieses geschichtliche Ereignis blieb über die Jahrhunderte lebendig. In den Synagogen wird das Geschehen des Jahres 70 beklagt, als hätte es sich in der Gegenwart ereignet. So gesehen sind die Zerstörung der Stadt und des Heiligtums niemals Geschichte geworden, niemals Geschichte im Sinne von erledigter Vergangenheit, im Sinne eines Geschehens, das mit den Lebenden nichts mehr zu tun hat.
Im Kern liegt das am Inhalt der Klage und Trauer. Nicht Selbstmitleid über das Schicksal des eigenen Volkes ist gemeint, nicht Klage über das ungerechte Schicksal. Vielmehr wird das Gedenken von Buße und Reue bestimmt. Das jüdische Volk erkennt den Verlust des Tempels als Folge von Schuld und Versagen. Merkwürdig, wo doch objektiv die römischen Legionen das Zerstörungswerk vollbracht haben, wo doch schon die Juden des 2. Jahrhunderts hätten sagen können: Wir haben die Gnade der späten Geburt, wir haben mit der Sache nichts zu tun. Aber der Vorwurf an die eigene Adresse blieb lebendig: Israel hat es nicht vermocht, dem Frieden zu dienen.
Schon im Talmud wird auf die Frage, warum der Tempel zerstört worden sei, geantwortet: Weil grundlose Feindschaft herrschte; grundlose Feindschaft nicht zwischen Juden und Römern, sondern Zwietracht und Feindschaft im jüdischen Volk selber. - Deutung von Geschichte! Eine Deutung von Geschichte, die versucht, heilsame Lehren aus der Geschichte zu ziehen und deshalb bemüht ist, die Geschichte lebendig zu halten.
Was hat das mit dem Israel-Sonntag zu tun? - Nun, auch dieser Tag, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum jüdischen Fastentag gelegen, ist seit Jahrhunderten in der Kirche Gedenktag der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Auch am Israel-Sonntag ist dieses Ereignis immer wieder gedeutet worden. Das Mittel dazu war stets das Evangelium dieses Sonntags beim Evangelisten Lukas:
Als Jesus Jerusalem näherkam und die Stadt sah, weinte er über sie und sagte: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen. Es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir; denn du hast die Zeit der Gnadenheimsuchung nicht erkannt.
Lukas erzählt, dass Jesus im Angesicht Jerusalems über die Stadt weint und klagt. Es ist das einzige Mal, dass wir in den Evangelien davon hören, dass Jesus weint. Als Jude zum jüdischen Volk gehörend ist es ihm lieb um diese Stadt und ihre Einwohner. Er sieht ihre Zerstörung und den Tod und die Versklavung ihrer Bewohner kommen. Der Grund seiner Klage ist fast derselbe, wie wir ihn aus dem Talmud gehört haben: „Wenn du doch erkenntest, was zu deinem Frieden dient.”
Aber die Deutung, die der Evangelist Lukas, der sein Evangelium etwa 20 Jahre nach dem jüdischen Krieg schrieb, der Zerstörung der Stadt gibt, ist dann doch eine ganz andere.
Sein Vorwurf ist, dass Jerusalem der Zerstörung anheimgefallen ist, weil es die Zeit seiner Gnadenheimsuchung nicht erkannt hat, das heißt, weil es Jesus als den Christus nicht angenommen hat. Nach Lukas ist der Grund der Katastrophe des jüdischen Volkes im Jahre 70, dass es seinen Friedenskönig nicht erkannt hat und so nicht erkannt hat, was zu seinem Frieden dient. - Deutung von Geschichte!
Eine verhängnisvolle Deutung von Geschichte! Denn zwar blieben mit diesem Evangeliumstext die Ereignisse des Jahres 70 auch bei den Christen lebendig. Aber es wurden keine heilsamen Lehren für sie selbst aus der Geschichte gezogen. Vielmehr blieb der Vorwurf an die Juden, dass sie gestraft und verworfen seien, weil sie Jesus als ihren Friedenskönig nicht annehmen. Es entstand grundlose Feindschaft; grundlose Feindschaft zwischen Christen und Juden.
Je stärker und siegreicher das Christentum wurde, desto verhängnisvoller für die Juden wurde diese Geschichtsdeutung. Gehört wurde bei den Christen nicht mehr das liebende Weinen Jesu, die Trauer und Klage um Jerusalem, sondern jene Deutung, dass tausende von Menschenleben um Jesu willen vernichtet worden seien, wurde endlos wiederholt und fortgesetzt - aber nicht nur mit Worten. Nein, für diese Deutung wurden immer neue Fakten geschaffen. Kein Mensch kann fassen und erfassen, wieviel Leid und Blut und Schrecken Christen in der Geschichte der Kirche über jüdische Menschen gebracht haben - im Namen Jesu.
Das Evangelium bei Lukas hat sich längst in sein Gegenteil verkehrt. Obwohl sie Jesus angenommen haben und sich nach ihm nennen, haben Christen nicht erkannt, was zum Frieden dient – jedenfalls im Verhältnis zu den Juden. Und das muß doch wohl heißen, dass sie Christus selbst nicht erkannt haben, weder den Juden Jesus noch Christus als den Friedenskönig.
Verwandelt hat sich damit auch das Weinen Jesu. Längst schon weint er über all das, was das jüdische Volk nach dem Jahre 70 erlitten hat, weint er über die, die doch vorgeben, ihm nachfolgen zu wollen. Nehmen wir es wie im Evangelium als ein liebendes Weinen: Es will zur Umkehr rufen!
Solche Umkehr bedeutet, dass jene Deutung von Geschichte, die Lukas mit dem Evangelium vorgenommen hat, nicht mehr annehmbar sein kann.
Noch eine andere, eine dritte Weise der Deutung der Geschichte, der Deutung des Verhältnisses von Juden und Christen gibt es im Neuen Testament beim Apostel Paulus, die er noch vor der Zerstörung Jerusalems schrieb. Er nennt es im Römerbrief ein Geheimnis, dass auch dann, wenn Juden und Christen einander dadurch fremd sind, dass die einen an Jesus Christus glauben, die anderen aber nicht, doch beide auf das engste miteinander verbunden sind. Sie sind miteinander verknüpft, weil Gott sich über sie alle in Liebe erbarmt hat und erbarmen will. So zusammengeschlossen sind Juden und Christen Geschwister.
Und das gilt es nach Paulus jetzt zu leben. Juden sollen erkennen können, dass Christen ihre Geschwister vor dem gemeinsamen Gott sind. Und wo, wenn nicht durch unser geschwisterliches Verhalten, sollen Juden erfahren, dass Jesus Christus nach unserem Zeugnis derjenige ist, der Frieden im Himmel und auf der Erde bringen und schaffen will. Wir sind die Botschafter des Friedenskönigs. Wir sind sein Mund, seine Hände, seine Füße. Wir sind, wenn wir uns zu Recht Christen nennen wollen, die Tatzeugen seines Friedens, selber Friedensbringer.
So ist der Maßstab für unser Verhältnis zum jüdischen Volk, dass wir ihm gegenüber so leben, dass es erkennen kann, dass wir ihm zum Frieden dienen, dass es in uns den Bruder, die Schwester wahrnehmen kann. Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Denn ein geschwisterliches Verhalten bedeutet mehr als zugesagte Solidarität und Reden gegen Antisemitismus. Niemand würde es hinnehmen, wenn sein leiblicher Bruder oder seine leibliche Schwester verhöhnt, beschimpft oder bedroht würde. Dann kommt es vielmehr darauf an, Verantwortung zu übernehmen und für sie oder ihn einzustehen. Ein geschwisterliches Verhältnis zu den Juden bedeutet, Verantwortung an- und wahrzunehmen – und zu handeln und zu leben. Dann kann Glaubwürdigkeit anfangen zu wachsen.
Noch immer wird im jüdischen Volk wegen der Zerstörung Jerusalems und des Temples vor 1900 Jahren einmal im Jahr gefastet und geklagt. Aber schon der Prophet Sacharja schreibt, dass die Fastentage in Israel einmal zu Tagen von Freudenfesten werden, nämlich dann, wenn Friede herrschen wird. Der jüdische Bibelausleger Raschi erklärt dazu: Friede meint an dieser Stelle: Wenn die Unterdrückung der Juden aufgrund ihres Glaubens aufgehört haben wird.
Somit hängt es auch an der christlichen Gemeinde, und daran, ob sie ihre geschwisterliche Verantwortung wahrnimmt, ob der Fastentag einmal zu einem Freudentag werden wird.
In drei Gesprächen mit mir erläuterte Rabbiner Andrew Steiman im Gespräch mit mir die Bedeutung des 9. Aw und der diesem Trauertag vorausgehenden drei Wochen. Er ging auf die besonderen Gebete und Traditionen ein und ordnete den Trauertag auch in unsere Gegenwart ein.
Die Folgen 1 und 2 findest du hier und hier.
Einen Sonntag voll des Segens für dich wünscht dir sehr herzlich, Dein Ricklef