Der Durchbruch der Gnade: Ein Midrasch über Tamar im Stammbaum Jesu
„Sie ist gerechter als ich.“ Warum Matthäus Tamar wählte und wie ihr mutiger Schritt die Linie des Messias rettete. Ein Blick in die jüdischen Wurzeln des Evangeliums.
Matthäus beginnt sein Evangelium mit den toldot Jeschua haMaschiach, ben David, ben Awraham, mit den „Hervorbringungen, die zu Jesus Christus, dem Sohn Davids, dem Sohn Abrahams geführt haben“. Lies dazu bereits hier:
In diesem „Stammbaum“ Jesu, wie deutsche Ausgaben des Neuen Testaments häufig übersetzen, begegnen – und das ist auffällig – vier Frauen in den dreimal 14 Generationen von Abraham bis „Josef, dem Mann Marias, der Mutter von Jesus, der Christus heißt” (1,16).
Die erste dieser Frauen ist Tamar, deren Geschichte in 1. Mose 38 ein sogenannter Einschub in die Josefsgeschichte im Wochenabschnitt Wajeschew ist. Lies den Text in der Übersetzung von Samson Raphael Hirsch hier:
Wie sehr der „Einschub“ von Tamar gleichwohl mit dem Kontext verbunden ist, wird an mindestens zwei Dingen spürbar:
Nirgendwo im Buch Bereschit wird Gott so wenig genannt, ist aber seine Führung so stark fühlbar wie in der Josefsgeschichte. Das gilt auch für die Einfügung der Geschichte von Juda und Tamar.
Und nicht zufällig ist der übereinstimmende Sprachgebrauch. In 37,32f lesen wir von Josefs Brüdern:
Sie schickten den verbrämten Rock, ließen ihn zu ihrem Vater kommen und sagten: „Dies haben wir gefunden; erkenne doch, ob es der Rock deines Sohnes ist oder nicht.“ Er erkannte ihn und sprach: „Meines Sohnes Rock!“
Von Tamar heißt es in 38,25f:
Sie hatte zu ihrem Schwiegervater geschickt: „Dem Manne, dem diese gehören, habe ich empfangen!“ Sie ließ ihm sagen: „Erkenne doch, wem diese, das Siegel und die Schnüre und der Stab, gehören!“ Jehuda erkannte sie und sprach: „Sie ist gerechter als ich.“
Das Siegel der Wahrheit
Juda erkannte das Siegel. In diesem Moment sah er nicht nur seinen Ring. Er sah den Spiegel seiner eigenen Seele. Er erinnerte sich, wie er einst den bunten Rock seines Bruders Joseph den Vätern präsentierte und sprach: „Erkenne doch!“ Und Juda überwand seinen Stolz und sprach: „Sie ist gerechter als ich.“
Aber er erkannte auch Tamar – so wie einst Adam seine Frau „erkannt“ hatte. Da erscholl nach dem Midrasch eine Bat Kol (Himmelsstimme) und sprach: „Du hast sie gerettet vor dem Feuer unten. Ich werde dich retten vor dem Feuer oben. Und ihr beide werdet die Vorfahren des Löwen von Juda sein.“
Der Durchbrecher
Tamar „erschlich sich“ durch ihre List die Nachkommenschaft, die ihr durch das Gesetz der Leviratsehe zustand. So empfing sie von Juda Zwillinge, den „Durchbrecher“ Perez („Durchbruch“ ist die Bedeutung seines Namens) und Serach, der zwar als erster seine Hand herausgestreckt hatte, Perez aber an ihm vorbei durch die Gebärmutter Tamars brach.
Später wird auch der Erlöser so genannt werden (Micha 2,13), weil der Messias kommen wird als einer, der die Zäune der Welt durchbricht.
Das alles weiß der Evangelist Matthäus. Im Lehrhaus seiner Gemeinde hätte dieses Gespräch geführt werden können:
Ein Schüler fragte seinen Lehrer: »Warum beginnt Matthäus, der Levi, das Buch der toldot Jesu, des Gesalbten, mit einer Liste von Namen, und warum flicht er in diese Kette der Väter den Namen einer Frau ein, die sich als Hure verstellte? Hätte er nicht Sara nennen sollen, die Reine, oder Rebekka, die Kluge? Warum Tamar?«
Der Lehrer antwortete: »Komm und sieh. Der Weg des Messias ist nicht wie der Weg der Könige von Fleisch und Blut. Er ist ein Weg des Durchbruchs (Perez), der dort entsteht, wo menschliche Wege enden.«
Die Grundlage für den Erlöser aus dem Stamm Davids
Tatsächlich sagt Rabbi Schmuel bar Nachman im Midrasch Bereschit Rabba 85,1 (nach Tenachon, Heft 8):
Die Brüder waren dabei, Josef zu verkaufen, Josef trauerte über seine Gefangenschaft, Ruben grämte sich über die Sache mit Bilha (1. Mose 35,22), Jakob über den Verlust Josefs, Juda über eine Frau. Und der Heilige, gepriesen sei er? Er schuf in diesem allem das Licht des Königs Maschiach...
Denn so ist es ja: Aus der Verbindung von Juda und Tamar wurde Perez geboren, und einer der Nachkommen von Perez (Boas) heiratet wieder ein nicht-jüdisches Mädchen. Und aus dieser Verbindung wird Owed geboren, der Großvater von König David. So legt der Heilige, gepriesen sei er, in den finsteren Jahren von Hass, Hunger und Verbannung schon die Grundlage für den zukünftigen Erlöser, der aus dem Geschlecht Davids kommen wird.
Rabbi Schmuel bar Nachman und Matitjahu, der Evangelist, hätten im selben Lehrhaus die Tora studieren können…




