ahavta+ || Der Tag des Gerichts
„Erkennen soll jedes Geschöpf, dass du es geschaffen!“ (aus den Gebeten an Rosch HaSchana)
Am vergangenen Sonntag schrieb ich, dass Christen im Blick auf Umkehr und Neuanfang, zu denen Jesus im Neuen Testament einlädt, viel lernen können, wenn sie sich auf Rosch HaSchana einlassen. Während der Jamim Nora’im, der zehn ehrfurchtgebietenden Tage von Neujahr bis zum Versöhnungstag sind sie sehr nah beim jüdischen Volk.
Wie sehr es die gleiche Luft ist, die Christen und Juden atmen, zeige ich dir heute am Beispiel zweier sehr alter Gebetsliturgien.
Ich wünsche Schana towa, Schalom für einen guten Sonntag und eine nachdenkliche Woche
dein Ricklef Münnich
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Wir stärken die Heiligkeit des Tages.
Denn er ist gewaltig und ehrfurchtgebietend.
So beginnt der Pijut, die religiöse Dichtung U-netane Tokef, die an Rosch HaSchana und Jom Kippur im Mussaf-, dem Zusatzgottesdienst als Erweiterung des dritten Lobspruchs des Achtzehngebetes gesprochen wird. Ich habe den Gebetstext am Freitag zum Wort zu Erew Rosch HaSchana von Rabbiner Walter Rothschild für die Mitglieder von ahavta+ in ganzer Länge wiedergegeben.
Der Pijut hat keinen Reim, was ein hohes Alter nahe legt. Forscher nehmen inzwischen eine Entstehungszeit im 8./9. Jahrhundert an. Einige erwägen sogar, dass Grundbestandteile bereits aus dem 3. oder 4. Jahrhundert stammen. Der Hymnus
beginnt mit der Beschreibung des himmlischen Gerichtshofs, dessen Urteil alle Weltbewohner trifft, womit der Tag des Jahresanfangs wie ein Tag des universalen Weltgerichts wirkt. „Furchtbar ist er und schrecklich“ – das erinnert an das endzeitliche Gericht in Maleachi 3,23: „Sieh, ich sende euch Elija, … bevor der Tag des Ewigen kommt, der große und furchtbare“. Von hier aus wendet sich der Autor ausdrücklich dem Neujahrstag zu: „Und alle Menschheit wird vor Dir vorüberziehen“, d. h., wie die Mischna (RhSh 1,2) sagt: „die heute Lebenden“ – ohne endzeitliche Bedeutung also. Und so bezieht sich auch die Fortsetzung des Pijut auf die „ehrfurchtgebietenden“ hohen Feiertage: „An Rosch haSchana werden sie (die Menschen) eingeschrieben und an Jom Kippur besiegelt“.1
Diese Beschreibung von Neujahr als Tag des Jüngsten Gerichts hat keine aggadische oder talmudische Quelle, stellt Israel Yuval fest. Die jüdischen Lehrer der Zeit von Talmud und Midrasch hätten sich zwar mit den „Tagen des Messias“, nicht aber mit der Ära des Weltendes befasst. Anders bei den Christen! Bei den folgenden Zeilen des Gebets denkt Israel Yuval an die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament:
Du öffnest das Buch des Gedenkens, und aus ihm wird vorgelesen; das Siegel eines jeden Menschen ist darin. Das große Schofar ertönt, und man vernimmt die Stimme eines leisen Flüsterns. Die Engel sind bestürzt, Zittern und Beben ergreifen sie, und sie sprechen: Siehe, der Tag des Gerichts (ist da), um das Heer in der Höhe im Gericht zu prüfen; denn sie sind nicht lauter im Gericht in deinen Augen.
Johannes beschreibt (Offb 7–10) die Sieben Siegel, die das himmlische Buch verschlossen halten. Allein „das Lamm“ kann sie öffnen – bis hin siebten Siegel des Zeitenendes, das die Engel mit ihren Posaunen begleiten – der Beginn des Jüngsten Gerichts.
Das Buch, das Siegel und seine Öffnung, das Schweigen, die Posaune, die Engel – alle sind zwar der „Offenbarung“ und dem Unetanne tokef gemeinsam, doch hat jedes Element jeweils andere Bedeutung. Hier birgt das Buch die Geheimnisse des Kosmos und der Geschichte, dort die Taten der Menschen, gute wie böse. Das Siegel der Offb ist im Pijut „das Siegel von jedermanns Tun“, „Signatur“ der Taten des Menschen. Dort öffnet das Lamm das Siegel, hier ist es Gott, der das Buch öffnet, „das sich von selbst liest“. Die Engel im Pijut sind, anders als die der „Offenbarung“, passiv, denn auch sie stehen zitternd und zagend unter dem Gericht.
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