Die verdrängten Erstgeborenen
Das 1. Buch Mose: Nicht der Erstgeborene erbt den Segen, sondern der Erwählte. Ein Handeln Gottes, das bis ins Neue Testament ausgreift – und dort soziale Sprengkraft entfaltet.
Im „Echo der Weisung“ zum Wochenabschnitt Bereschit („Im Anfang“) habe ich über Toldot („Hervorbringungen“) als ein strukturierendes Grundwort im 1. Buch Mose geschrieben.
Der sechste Wochenabschnitt in 1. Mose 25,19–28,9 heißt nun selbst Toldot. In ihm geht es um die „Hervorbringungen“ bzw. „Nachkommen“ von Jizchak, geboren von seiner Frau Riwka. Die Parascha zeigt beispielhaft, worum es im gesamten Buch immer wieder geht und was den „roten Faden“ darstellt. Im Buch Genesis herrscht eine fundamentale, beinahe programmatische Spannung zwischen dem biologischen Status des Erstgeborenen (bechor) und dem rechtlichen bzw. von Gott bestimmten Status der Erstgeburt (bechora). Man kann es so zusammenfassen:
Die Genesis ist das Buch der gescheiterten oder verdrängten Erstgeborenen.
Das Muster der verdrängten Erstgeburt
Fast durchgängig zeigt das 1. Buch Mose, dass der Status der bechora (Segen, Vorrang, Priestertum, doppeltes Erbe) nicht automatisch dem biologischen bechor zufällt. Die natürliche Geburtsordnung wird immer wieder durchbrochen:
Kain (bechor) versus Abel/Set: Kains Opfer wird nicht angesehen; die Abstammungslinie setzt sich über Set fort.
Ismael (bechor) versus Isaak: Ismael ist der Erstgeborene Abrahams, aber die bechora (der Bund) geht an den Zweitgeborenen.
Esau (bechor) versus Jakob: Hier wird die Entkopplung am deutlichsten verhandelt. Die bechora wechselt gleichsam als „Ware“ den Besitzer.
Ruben (bechor) versus Josef/Juda: Ruben verliert seinen Status durch den Inzest mit Bilha.
Manasse (bechor) versus Efraim: Jakob kreuzt absichtlich die Hände, um den Jüngeren zu segnen, trotz des Protests von Josef, der auf die Biologie pocht („Nicht so, mein Vater, dieser ist der Erstgeborene“).
Im Wochenabschnitt Toldot begegnet der Begriff bechora gleich fünfmal:
25,31: Jakob sagt: „Verkaufe mir heute deine Erstgeburt (bechoratecha).“
25,32: Esau sagt: „Siehe, ich muss sterben; was soll mir da die Erstgeburt (bechora)?“
25,33: „…und er verkaufte seine Erstgeburt (bechorato) an Jakob.“
25,34: „…so verachtete Esau die Erstgeburt (bechora).“
27,36: Esau klagt: „Er heißt mit Recht Jakob (Betrüger), denn er hat mich nun zweimal betrogen: Meine Erstgeburt (bechorati) hat er genommen, und siehe, nun nimmt er auch meinen Segen (birchati).“
Das 1. Buch Mose zeigt mit dieser Spannung, dass Gottes Geschichte nicht den vorbestimmten Regeln oder einer Geburtschronologie folgt. Der Bechor wird geboren, aber der Träger der Bechora wird erwählt oder „gemacht“.
Das Neue Testament als Echo
Dies bereitet den Boden für das Neue Testament. Denn das Neue Testament versteht man am besten als „neu“, wenn man es als Echo, als Widerhall und Resonanz der Tora wahrnimmt. Es klingt nicht aus sich selbst heraus.
In Übersetzungen nicht wiederzugeben ist an der letztgenannten Stelle 1. Mose 27,36 das unvergleichliche Wortspiel bechorati – birchati, „meine Erstgeburt“ – „mein Segen“. Interessant ist, dass im Neuen Testament ein vergleichbares Wortspiel zu entdecken ist.
Im Lukasevangelium 3,7f (parallel im Matthäusevangelium 3,7–9) sagt Johannes der Täufer:
Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Söhne erwecken.
Der letzte Satz heißt Hebräisch:
Elohim yachol lehakim min ha-awanim ha-eleh banim le-Avraham.
Oder in der aramäischen Sprache von Johannes und Jesus (wie er im syrischen Peschitta-Text erhalten ist, der dem galiläischen Aramäisch sehr nahekommt):
D-mashkach Alaha min abnaya haleyn l-maqama benaya l-Avraham.
Das Wortspiel – eine Paronomasie wie in „Lieber arm dran, als Arm ab!“ – funktioniert Hebräisch wie Aramäisch: Es gibt eine tiefe Verbindung zwischen awanim und banim, „Steinen“ und „Söhnen“, mit der Johannes die Leichtigkeit des Austauschs zwischen ihnen unterstreicht. Gott muss nur einen einzigen Buchstaben (das Alef) hinzufügen oder wegnehmen, um den Status komplett zu ändern.
Damit zeigt der Täufer: Der Status „Erster“ (Sohn) ist kein unverlierbares Recht, sondern eine jederzeit revidierbare Gnade Gottes. Es ist die Teschuwa, die Umkehr, die an guten Taten abzulesen ist, die allein die Umkehrung (um ein deutsches Wortspiel zu verwenden) der Bechora, der Sohnschaft, im Verhältnis zu Gott zu verhindern vermag: „Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen“ (Lukas 3,9; Matthäus 3,10).
Es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Johannes der Täufer das Wortspiel „Steine“ und „Söhne“ bereits in der mündlichen Tradition vorfand. Im Talmud (Chullin 91b) und im Midrasch (Bereschit Rabba 68,11) wird das Wortspiel auf 1. Mose 28,11 angewendet, wo Jakob „von den Steinen des Ortes nahm“ und sie sich unter den Kopf legte. Der Toratext wechselt später vom Plural („Steine“) zum Singular („nahm den Stein“, 28,18). Der Midrasch sagt: Die Steine begannen zu streiten: „Auf mir soll der Kopf des Gerechten ruhen!“ Daraufhin verschmolz Gott sie alle zu einem Stein. Der Midrasch deutet die awanim als Symbol für die banim (die zwölf Söhne/Stämme), die Jakob zeugen wird. Dass sie zu einem Stein wurden, symbolisiert die Einheit des Volkes Israel. Hier sind die Steine also Repräsentanten der Söhne, nicht deren Ersatz. Johannes wendete dann seine eigene Aussage polemisch gegen die etablierte Lesart: „Ihr glaubt, die Steine im Tempel seien Garanten für eure Auserwählung als Banim? Nein, Gott kann sich Söhne aus beliebigen Awanim machen.“
Die Ersten und die Letzten
Wie das Thema der weggenommenen bzw. übertragenen Bechora sich durch das gesamte 1. Buch Mose zieht, so ist die Umkehrung bzw. die Wegnahme des Vorzugs der Abrahamskindschaft das Grundmotiv der Evangelien – und in bestimmter Variation auch bei Paulus, auf den hier nicht eingegangen werden kann.
Dies lässt sich besonders zeigen an der Verwendung und Weiterführung der Sentenz „Die Letzten werden die Ersten sein (und die Ersten die Letzten)“, zum Beispiel in Markus 10,31; Matthäus 20,16; Lukas 13,30. Jesus richtete sich oft an solche Pharisäer und Schriftgelehrten („die Ersten“), die meinten, durch Abstammung und Erbe der Tora den Platz im Reich Gottes gesichert zu haben. Er hält entgegen: Die Ausgestoßenen, Zöllner und Sünder („die Letzten“), die Jesu Ruf zur Umkehr folgen, werden diesen „Ersten“ auf dem Weg in das Reich Gottes zuvorkommen oder ihnen gleichgestellt werden. So etwa im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16): Gott ist Souverän über chronologische Vorrechte: Wer erst „zur elften Stunde“ kommt, erhält denselben Lohn (den versprochenen Denar) wie die, die den ganzen Tag in der Hitze gearbeitet haben.
Ein Alleinstellungsmerkmal des Lukasevangelium ist, dass es das Motiv der Ersten und der Letzten auf soziale und ökonomische Verhältnisse überträgt. Nur bei Lukas findet sich die eindrucksvolle Geschichte vom armen Lazarus (16,19–31), der nach seinem Tod zum besonders bevorzugten Abrahamssohn wird, wenn die irdische Hierarchie im Himmel exakt umgekehrt gespiegelt wird:
Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag prächtige Feste feierte. Vor seiner Tür aber lag ein Armer mit Namen Lazarus, der war über und über bedeckt mit Geschwüren. Und er wäre zufrieden gewesen, sich den Bauch zu füllen mit den Brosamen vom Tisch des Reichen; stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Es geschah aber, dass der Arme starb und von den Engeln in Abrahams Schoss getragen wurde. Aber auch der Reiche starb und wurde begraben. Und wie er im Totenreich, von Qualen gepeinigt, seine Augen aufhebt, sieht er von ferne Abraham und Lazarus in seinem Schoss. Und er schrie: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schicke Lazarus, damit er seine Fingerspitze ins Wasser tauche und meine Zunge kühle, denn ich leide Pein in dieser Glut. Aber Abraham sagte: Sohn, denk daran, dass du dein Gutes zu deinen Lebzeiten empfangen hast und Lazarus in gleicher Weise das Schlechte. Doch jetzt wird er hier getröstet, du aber leidest Pein.
Schon im ersten Kapitel seines Evangeliums ließ Lukas Maria das Programm festlegen (Lk 1,52–53):
Er (Gott) stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen;
die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Das Neue Testament ist das Buch der für die Jetztzeit angekündigten gewendeten und sich umkehrenden Verhältnisse.
Israel und die Kirche
Eine abschließende Bemerkung: Ich finde es seltsam, dass die Kirche ihr eigenes Evangelium „Die Letzten werden die Ersten sein – und die Ersten Letzte“ so wenig verinnerlicht hat. Über Jahrhunderte hinweg hat sie die Juden zu den „Letzten“ gemacht – und als das „Allerletzte“ angesehen, indem sie ihnen den Fortbestand der Abrahamssohnschaft und die Bechora, das Recht der Erstgeburt abgesprochen hat. Obgleich Gott doch in seiner Tora davon nichts gesagt hat – im Gegenteil: „Israel ist mein Bechor, mein erstgeborener Sohn“ (2. Mose 4,22)…
Wo blieb die Umkehr inmitten jener Jahrhunderte der Größe und Macht der Kirche? Wird Vater Abraham nicht einst zu ihr sagen: „Sohn, denk daran, dass du dein Gutes zu deinen Lebzeiten empfangen hast und Israel, mein Bechor, in gleicher Weise das Schlechte“?



