ahavta+ || Irrungen, Wirrungen & ein Geheimnis
Die Geschichte des hebräischen Kreuzes auf der Prager Karlsbrücke und warum das Göttliche an den unerwartetsten Orten zu finden ist.
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Dieser Satz von Rabbi Israel Baal Schem Tow (1698–1760) begegnete in den vergangenen Jahrzehnten in unzähligen Reden und Predigten, zumeist an Gedenktagen der nationalsozialistischen Verbrechen. Er war deshalb so beliebt, weil er ein unausgesprochenes Tauschgeschäft anbot. Wir erinnern uns der Schuld und Scham, dafür ist unsere Gegenwart salviert, geheilt.
Was aber, wenn die Erinnerung selbst falsch ist, wenn das Erinnerte, das als Erinnerung erzählt wird, die Dinge verdunkelt?
Manchmal liegt das Geheimnis jedoch an einer Stelle, die schon immer sichtbar gewesen ist. Aber es blieb im Verborgenen. Im Blick auf das Exil Israels (die galut) sprach der Baal Schem Tow auch von einer doppelten Verborgenheit, in der die Verborgenheit selbst verborgen ist. Diese Verborgenheit ist so groß, dass man sich der Verborgenheit nicht einmal bewusst ist; man kann sogar dazu kommen, die Dunkelheit für Licht zu halten.1
Von einer doppelten Verborgenheit möchte ich dir heute erzählen. Sie liegt dort, wo täglich viele Hundert Menschen vorübergehen. Auf der Karlsbrücke in Prag.
Ich wünsche dir Schalom für einen schönen Sonntag und eine gute Woche
dein Ricklef Münnich
Die Prager Karlsbrücke
Die Grundsteinlegung der Karlsbrücke über die Moldau erfolgte 1357 durch Kaiser Karl IV. Errichtet wurde sie als Bogenbrücke mit 16 fast symmetrischen Bögen errichtet. Ihre Länge beträgt 516 Meter, ihre Breite rund 10 Meter. Ab 1629 wurden über den Brückenpfeilern Skulpturen von Heiligen und Patronen aufgestellt. Insgesamt sind es 30 Skulpturen. Die älteste ist ein Kruzifix, später ergänzt und ausgebaut zu einer Golgata-Darstellung.
Skulptur des Kreuzes mit dem Kalvarienberg
Sousoší Kříže s Kalvári – so nennen die Prager die Figurengruppe auf der stromabwärts gerichteten Nordseite der Karlsbrücke. Dort steht sie am dritten Brückenpfeiler.
Im Gegensatz zu anderen Skulpturen auf der Brücke entstand der heutige Kalvarienberg über mehrere Jahrhunderte hinweg. Es handelt sich um eine in Stil und Zeit heterogene Gruppe.
Im Jahr 1629 wurde das ältere Renaissance-Kreuz durch ein neues Holzkreuz mit weiteren Darstellungen von Maria, Johannes und Maria Magdalena ersetzt. Der Auftrag kam von Kaiser Ferdinand II. selbst. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges wurde dem Gekreuzigten während der schwedischen Belagerung der Altstadt der Kopf abgeschossen.
Die heute zu sehende Bronzestatue des Gekreuzigten stammt aus dem Jahr 1628, und zwar aus Dresden. In jenem Jahr hatte der Stück- und Glockengießer Hans Hillger ein großes messingnes Crucifix für die Dresdner Elbbrücke gegossen, welches jedoch zu massiv und schwer und infolgedessen zu theuer ausgefallen wäre, weshalb die Annahme verweigert wurde.2 Das Modell für das Kruzifix wurde von dem Bildhauer Wolf Ernst Brohn entworfen.
Am 31. Juli 1657 genehmigte Kaiser Leopold I. einen Vorschlag der böhmischen Kammer in Prag, ein zu Dresden bei den Hillgerischen Kaufleuten den Erben des Stückgießers Johann Hillger vorhandenes in Metall gegossenes Kruzifix zu Fortpflanzung der von den hin und wieder auf besagter Brucken vorbeigehenden Völkern bisher geschöpften Andacht zu erwerben, da das bisherige Werk wegen stäten Ungewitters verderbt und dessen keine Beständigkeit zu hoffen sei.3 Der Prager Stückgießer Niklas Löw konnte den ursprünglich dafür geforderten Preis von 1000 Reichstalern auf die Hälfte herabdrücken, was „die Hillgerischen Erben aus Armuth anzunehmen gleichsam necessieret" wurden.
Das Terrain des Kalvarienbergs stammt von dem Bildhauer Jan Jiří Heermann aus dem Jahr 1707. Zugleich ersetzte man das hölzerne Kreuz durch eine bronzene Version. Im Jahr 1861 wurden vorangegangene Bleistatuen von Maria und Johannes durch Skulpturen von Emanuel Max ersetzt.
Der als jüdisch gekennzeichnete Gekreuzigte
Dieses Bild des aus Dresden stammenden Kruzifix ist dem unten genannten Aufsatz von Walter Hentschel entnommen. Der Autor veröffentlichte seinen Beitrag 1939, also im Nationalsozialismus. Das, was er eine Teilansicht nennt, ist in Wirklichkeit eine bearbeitete Abbildung. Er deutet es etwas verschämt an, indem er dem Prager Bildgeber für die Vorlage dankt.4 Hentschel schien es offenbar nicht opportun, die gesamte Ansicht des Kreuzes auf der Karlsbrücke zu zeigen. Sonst hätte er nämlich hebräische Buchstaben und damit den Gekreuzigten als Juden darstellen müssen.
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