Derzeit stehe wirklich zur Debatte, ob Israel nach 75 Jahren eine Demokratie bleibt oder der demokratische Kern ausgehöhlt wird. Das meint zumindest Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, zusammen mit 40 deutschen Wissenschaftlern, die mit ihm ihre Sorge in einen Offenen Brief gefasst hatten.
Liest man deutsche Medien, ist diese Sorge nur zu berechtigt: Nie zuvor wurde Israel von einer so rechtsnationalen Koalition regiert. Unter dem Deckmantel von Reformen wollen sie den Staat in eine illiberale Demokratie umwandeln.1 Mittel dazu ist natürlich die umstrittene und umkämpfte „Justizreform“. Deren Vorschläge würden das Ende Israels als konstitutionelle liberale Demokratie bedeuten.2
Sogar die Bundesregierung wird aufgefordert zu klar formulierte(n) Sätze(n), dass die konservativ-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst die Axt anlegt an den demokratisch verfassten Staat.3
Mit meiner Lektüre des im April diesen Jahres erschienenen Buches von Daniel Gordis, Impossible Takes Longer: 75 Years After Its Creation, Has Israel Fulfilled Its Founders' Dreams?, möchte ich die aktuelle Aufregung ein klein wenig einordnen in die Geschichte der Demokratie des Staates Israel. Übrigens publiziert auch Daniel Gordis wie ich auf der Plattform Substack:
Ich wünsche dir Schalom für einen schönen Sonntag und eine gute Woche
dein Ricklef Münnich
Israel – ein Staat zu einem bestimmten Zweck
In der Einleitung seines Buches wundert sich Daniel Gordis, warum der Staat Israel, der von den Vereinten Nationen als das hundertgrößte Land der Welt eingestuft wird, gleichwohl in der Berichterstattung auf Nachrichtenseiten rund um den Globus auf Platz 6 liegt: Warum wird Israel in der internationalen Berichterstattung mehr Aufmerksamkeit geschenkt als Großbritannien, Frankreich oder Deutschland? Auch mehr als Nordkorea und der Iran.
Gordis nennt als einen von mehreren Gründen, warum sich die Welt auf Israel konzentriert: Israel ist ein Land, das ein bestimmtes Ziel verfolgt. Das mag unscheinbar klingen, aber die meisten Länder haben keine Ziele. Eine Ausnahme würden die USA bilden: Auch die Vereinigten Staaten haben ein Ziel. Die Gründer Amerikas sahen in ihrer Gründung ein kühnes Experiment der Selbstverwaltung, eine Regierungsform, die Freiheit, Chancen und Gleichheit fördern sollte und von der Thomas Jefferson überzeugt war, dass sie eines Tages von der ganzen Welt übernommen werden würde. Während jedoch die USA ein Experiment für universelle Freiheit waren ("Gebt mir eure Müden, eure Armen, / Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen", schrieb Emma Lazarus [1849-1887] in ihrem Gedicht "The New Colossus", das den Sockel der Freiheitsstatue ziert), sollte Israel ein Land mit einem sehr speziellen Ziel sein. Der Zweck Israels war es, das jüdische Volk zu retten. Deshalb würde die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit When in the Course of human events beginnen, während Israels Unabhängigkeitserklärung mit The Jewish people was born in the Land of Israel anfängt.
Zugleich sei die Rettung des jüdischen Volkes nur ein Teil des Traumes der Zionisten gewesen. Sie waren auch fest entschlossen, eine Gesellschaft zu schaffen, die viel vollkommener war als die, aus der sie gekommen waren.
Unklarheit, was Israel werden soll
Daniel Gordis erzählt eine scheinbar nebensächliche Geschichte, die sich am Tag der Erklärung der Unabhängigkeit Israels am 14. Mai 1948 ereignete. Da ein Kameramann mit einer Filmkamera erst in letzter Minute beauftragt worden war, hatte dieser nur vier Minuten Film für eine Zeremonie, die eine halbe Stunde dauern sollte, im Kasten. Nach der Zeremonie schnitten die Pressesprecher der Jewish Agency den Film in vier Teile und schickten sie an verschiedene Nachrichtenagenturen zur Verwendung in Wochenschauen. Infolgedessen blieb weniger als eine Minute des Originals in Israel erhalten. Über diesen Schnipsel wurde dann der Ton der Worte David Ben-Gurions kopiert, weshalb es keine Synchronisierung mit seinen Lippen gibt.
Die mageren vier Minuten des Films würden die Knappheit widerspiegeln, die überall in dem Land herrschte, das gerade geboren wurde. Die Geschichte würde, so Gordis, zudem die Eile und den „zusammengeschusterten“ Charakter all dessen, was in jenen frühen, zerbrechlichen Tagen geschah, zum Ausdruck bringen. Die fehlende Synchronisation zwischen Ben-Gurions Lippen und dem Ton sei eine fast poetische Widerspiegelung der Unklarheit, die selbst unter den Gründern herrschte, was der neue Staat werden würde und sollte.
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