ahavta+ || Unter die Räuber gefallen
Von der Unfähigkeit jüdische Opfer als solche zu bezeichnen und von der Wiederkehr der Lehre einer jüdischen Verstocktheit
„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.“
So beginnt Jesus im Lukasevangelium (10,30) zu erzählen. Er will mit seiner Erzählung zeigen, wie man Nächster wird, nämlich indem man Barmherzigkeit (hebräisch chesed) erweist. Genau so wie dieser Samaritaner sie an dem überfallenen Juden tat: „Auf seiner Reise kam der Samaritaner dorthin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn weiter; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich zurückkomme.“
Lukas dient die Beispielerzählung als Erläuterung dafür, wie das Gebot der Tora „Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, das Rabbi Akiva etwas später „einen großen Grundsatz der Tora“ nennt, erfüllt wird.
Im Lauf der Geschichte der Kirche wurde betont, dass der Barmherzige kein Jude war; als Samaritaner stand er außerhalb des Judentums. Als Nichtjuden konnten sich Christen mit ihm leicht identifizieren. „Die Juden“ hingegen kamen in christlicher Verkündigung nicht gut weg. Denn zuvor waren ein Priester und ein Levit, die von ihrem Dienst am Tempel kamen, an dem Überfallenen vorübergegangen. In Jesu Erzählung ist das der entscheidende Punkt: Jesus übte mit ihr Kritik an einer Auslegung der Reinheitsgebote der Tora, der die priesterliche und levitische Reinheit über das Tun von Chesed stellte. Doch von einem Priester und einem Leviten wurde schon bald auf ganz Israel geschlossen. Dass Juden generell unfähig oder unwillig seien, den „großen Grundsatz der Tora“ zu erfüllen – für Jesus eine absurde Vorstellung!
Über all dem kam der überfallene Jude kaum mehr in den Blick. Wie das auch heute immer wieder geschieht, wenn ein Opfer von physischer Gewalt – nicht nur antisemitischer – weniger Aufmerksamkeit erfährt als die Versuche, die Taten und die Täter in ihren Motiven zu verstehen und „einzuordnen“.
Am 7. Oktober 2023 ist nicht nur ein Jude unter die Räuber gefallen, vielmehr wurden in den südlichen Ortschaften und Kibbuzim Israels neben dem Gaza-Streifen mehr als 1.200 Menschen getötet, über 12.000 verletzt und mehr als 200 Personen entführt. Wer sich davon erschüttern ließ, erschreckte nur kurz darauf ein weiteres Mal, als die „Einordnung“ der Massaker der Hamas und ihrer Helfer und Mitläufer zu einer bis heute anschwellenden Bewegung überall in der Welt führte, die verniedlichend „Pro-Palästina“ genannt wird und mit ihrem Slogan „From the river to the sea – Palestine will be free“ sich die Beseitigung von Juden aus ihrem Land und die Zerstörung ihres Staates auf die Fahnen geschrieben hat.
Anders als im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, in dem ein einzelner unter die Räuber gefallen ist, kam Israel jedoch niemand zur Hilfe. Im Gegenteil, man entwickelt Rechtfertigungsargumente und Mitgefühl für die Räuber. Und die Opfer, nicht allein jene nah am Gazastreifen, sondern Juden weltweit, die sich bedroht fühlen, die angegriffen werden und sich nicht mehr als Juden zeigen können, werden verantwortlich gemacht für das, was im sogenannten Gaza-Umschlag geschehen ist. Sie sind schuld an dem, was ihnen zustößt.
Wie konnte es dazu kommen, dass die jüdischen Opfer des 7. Oktober in der Weltöffentlichkeit kaum mehr der Rede wert erachtet werden? Wenige machen sich die Mühe, diese Frage zu beantworten. Zu diesen wenigen zählt Jacques Ehrenfreund. Er ist Professor für jüdische Studien an der Universität Lausanne. An seiner Wirkungsstätte hat er selbst zu seiner Überraschung erlebt, wie israelfeindliche „Aktivisten“ die Universität besetzten und gegen den jüdischen Staat hetzten. Nicht nur das, 200 Professoren, Assistenten und Doktoranden unterschrieben einen Brief, der die Aktionen unterstützte. In der Jüdischen Allgemeinen sagte Ehrenfreund dazu:
„Professoren sind dazu da, um zu versuchen, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Und jetzt kommen diese Leute, die den Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik gar nicht mehr anerkennen. (…) Das ist gefährlich für eine Demokratie! Die braucht einen Ort, wo die Leute dafür bezahlt werden, dass sie nach der Wahrheit suchen. Es ist natürlich naiv zu glauben, dass jeder von uns das erreicht, aber wir sollten uns bemühen, um die Welt etwas mehr zu verstehen.“
Bereits vor den Aktionen gegen Israel an der Universität hat Jacques Ehrenfreund genau das unternommen: die Ereignisse seit dem 7. Oktober zu verstehen zu suchen. Seinen am 10. Januar veröffentlichten Text, der auf einen Vortrag von 2009 zurückgeht, habe ich aus dem Französischen übersetzt, um ihn dir hier zur Sonntagslektüre anzubieten. An dieser Stelle danke ich einem Leser, der mich auf diesen bedeutsamen Beitrag aufmerksam gemacht hat.
Damit komme ich zurück auf das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ und seine antijüdische Auslegung. Der die Nächstenliebe übt, ist dort ein Samaritaner, ein Nichtjude. Tatsächlich wurde noch vor wenigen Jahrzehnten in christlicher Theologie die Ansicht vertreten – wie etwa von Andreas Nissen (Gott und der Nächste im antiken Judentum, Tübingen 1974, S.287f.) formuliert – „für den Juden [sei] ein ,Universalismus’, der die Liebe unterschiedslos auf alle Menschen ausdehnte (…) keine legitime Möglichkeit“. Im Urchristentum hingegen habe sich eine Universalisierung und Verallgemeinerung des alttestamentlichen Gebots der Nächstenliebe vollzogen, die das antike Judentum nicht gekannt habe. Im Christentum sei nicht mehr nur der jüdische Volksangehörige, sondern jeder Mensch als Nächster in den Blick genommen. An dieser Stelle kann ich nicht den Gegenbeweis führen (doch siehe das oben genannte Wort Rabbi Akivas sowie „ahavta+ || nur noch kurz die Welt retten“ vom 25. Juni 2023), sondern lediglich festhalten: So zu reden und zu schreiben, ist Antijudaismus.
Interessant bei Jacques Ehrenfreund ist nun, dass er herausarbeitet: Bei der gegenwärtig erlebten Juden- und Israelfeindschaft gibt es einen Zusammenhang mit solchem Antijudaismus.
„Um zu verstehen, wie der 7. Oktober eine beispiellose Welle der Judenfeindschaft auslösen konnte, muss man verstehen, was von einem traditionellen Antijudaismus, der sich vom Antisemitismus unterscheidet, neu gespielt wurde.“
Für Ehrenfreund ist es die in der Geschichte des christlichen Abendlandes immer wieder geäußerte „Hoffnung, dass die Juden endlich ihren Partikularismus aufgeben, ihren Irrtum einsehen und sich endlich einer Menschheit anschließen würden, die um so ungeteilter sein würde“, die sich jetzt wiederbelebt zeigt. „Die neue Feindseligkeit (…) richtet sich nicht gegen die Juden als solche, sondern gegen ihre Weigerung, den tieferen Sinn ihrer Geschichte zu begreifen“, nämlich sich spätestens mit und seit der Schoa dem „Kontinent der Einheit, der Gerechtigkeit und des Friedens“ anzuschließen, anstatt den partikularen Weg eines eigenen nationalen Staates zu gehen, der nun wieder einen territorialen Krieg führt, der neuen Kolonialismus hervorbringe.
Zukunftsgerichtet eröffnet sich für mich damit auch die Frage, wie sich das weltweite universale Christentum aus den Völkern positiv zu dem partikularen Volk der Juden verhält, wenn es dieses als Volk Gottes (an)erkennt.
Eine gute Woche wünscht dir
dein Ricklef Münnich
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