ahavta+ || Wiederaufforstung und Neuanfang
Gemeinsam versuchten der Staat und zum Judentum konvertierte Deutsche das in der Schoa zerstörte jüdische Leben neu einzupflanzen. So wurde zugedeckt, was noch gar nicht angeschaut wurde.
In der vergangenen Woche war ich mit elf weiteren Teilnehmern und zwei Rabbinern zu der hier angekündigten Begegnung in Kloster Donndorf. Wir hatten uns mehr zu sagen als in drei Tage gepasst hätte. Auch deshalb wird es eine Neuauflage von Mit Rabbinern im Gespräch im kommenden Jahr geben.
Das kabarettistische Talent von Rabbiner Dr. Walter Rothschild brachte uns häufig zum Lachen, manchmal schmunzelnd, gelegentlich lauthals – auch außerhalb des gut besuchten öffentlichen Leiderabends in der Ländlichen Heimvolkshochschule. Doch einige Äußerungen von Rabbiner Andrew Steiman und ihm ließen die Teilnehmer auch erschrecken. Zum Beispiel: Für die zahlreichen in den letzten Jahren errichteten und noch geplanten Synagogen-Neubauten gibt es keine Juden, die sie füllen könnten. Sie sind nicht das, was wir benötigen. Letztlich dienten sie der Illusion einer wiedergewonnenen Normalität jüdischen Lebens in Deutschland.
Ich nehme diesen Gesprächsteil in Donndorf zum Anlass, weitere jüdische Stimmen zum Schatzhaus des ‚deutsch-jüdischen Kulturerbes‘, das sich die nichtjüdische Gesellschaft über die Jahre aus den Trümmern des vergangenen Judentums zusammengebaut hat1, das jedoch nicht mehr als ein Trugbild eines wiederbelebten deutschen Judentums und einer physischen und kulturellen Kontinuität darstellt, zu Wort kommen zu lassen.
Das literarische Talent von Rabbiner Walter Rothschild kommt heute ebenfalls zum Ausdruck. Aus der Fülle seiner Geschichten vom Schreibtisch des Rabbiners stellt er einige exklusiv für Mitglieder von ahavta+ zur Verfügung. Den Anfang macht Der Hüter seines Bruders. Die Erzählung gibt eine zunächst merkwürdige Begegnung wieder, aus der sich jedoch dann ein wirklicher Neuanfang entwickelt. Große Leseempfehlung von mir!
Übrigens: Rabbiner Rothschild ist auf der durchaus nicht einfachen Suche nach einem Verlag, der seine Kurzgeschichten nach wahren Begebenheiten in sein Programm aufnimmt und einem weiteren Publikum öffnet. Solltest du hierfür einen Tipp oder Hinweis geben können, würde er sagen: You made my day!
Ich wünsche dir Schalom für einen schönen Sonntag und eine gute Woche
dein Ricklef Münnich
Zusammenbruch der Werte
Unsere Generation hat einige verführerisch glänzende Slogans formuliert: Selbstverwirklichung, persönliche Freiheit, Befreiung von den Tabus der Vergangenheit, von einem absoluten Gesetz, der neuen Moral und Situationsethik usw. usw. Das klingt alles sehr fortschrittlich. Und wer von uns - vor allem von uns Juden, die wir im zwanzigsten Jahrhundert leben - würde nicht gerne als Liberaler bezeichnet werden. Anstatt unserer Jugend ein Beispiel zu geben, dachten wir, es gäbe keinen sichereren Weg in die Zukunft und in ein glückliches, von Zwängen freies Leben, als uns von unseren Kindern führen zu lassen. Seit einiger Zeit ist ein Wandel im Gange, unmerklich, schrittweise.
So begann Eliezer Berkovits 1976 sein Werk Krise und Glaube. Er stellt fest: Wir spüren, dass irgendwo etwas nicht stimmt. Ein System, das menschlichen Fortschritt versprach, scheint nur Zerfall und Substanzverlust gebracht zu haben.
Die westliche Zivilisation ist für Berkovits moralisch bankrott. Wir sprechen gewöhnlich von der jüdischen Tragödie des Holocausts. In Wirklichkeit war die Tragödie der Menschheit weitaus größer als die spezifische Tragödie des jüdischen Volkes. Berkovits zitiert die Rede von Heinrich Himmler vor der versammelten SS-Führung:
Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. […] Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.
Berkovits meint, diese Aussage Himmlers sei nicht wirklich überraschend; sie ist weder unmenschlich noch absurd. Sie hat ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Logik. Innerhalb des Bezugsrahmens dieser Zivilisation macht sie Sinn. In einer Welt, in der (…) alle Moral relativ zu dem Menschen und der Gesellschaft ist, die sie aufstellen, macht es durchaus Sinn, einen Völkermord zu begehen und sich dennoch als ehrlicher Mensch zu betrachten, als Autor einer glorreichen Seite der Menschheitsgeschichte. Aber:
Es ist die ultimative Manifestation des Zusammenbruchs des Wertesystems der modernen Zivilisation.
Ich bin der Überzeugung, dass dieser Zusammenbruch in der nicht-jüdischen Welt bis heute nicht wirklich realisiert worden ist. Vielmehr dürfte die Krise sich seit Erscheinen des Buches von Eliezer Berkovits weiter zugespitzt haben.
Anders ist kaum zu erklären, dass gerade das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland sich immer wieder bemüht hat, von einem Kontinuum des deutschen Judentums zu sprechen, obgleich es dieses Judentum so gut wie nicht mehr gibt. Die weit überwiegende Zahl der Jüdinnen und Juden in Deutschland sind als Menschen der früheren Sowjetunion hierher gekommen oder sind zum Judentum konvertiert. Die erste Gruppe wird nach wie vor als Erfolgsgeschichte der deutschen Migrationsgesellschaft deklariert und gleichsam ‚germanisiert‘.2
Abwehr des Zivilisationsbruches
Diese Vorstellung von einem jüdischen Kontinuum wehrt den durch die Shoah entstandenen Bruch schlussendlich ab, er scheint dauerhaft überwunden: Deutsche (!) Jüdinnen*Juden sind wiederauferstanden wie Phoenix aus der Asche.3
Der deutsch-jüdische Soziologe Y. Michal Bodemann fragte in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung, ob „1700 Jahre“ nicht eher mit Gedächtnisverlust zu tun habe:4
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht davon, ‚wie tief das Judentum verwoben ist mit der Geschichte und Kultur unseres Landes.‘ Wie er sprechen viele andere von der ‚langen Geschichte‘ des Judentums in Deutschland und seinem Wiederaufblühen heute. Dabei wird vergessen, dass das deutsche Judentum 1945 unwiederbringlich zu Ende ging.5
Die Sehnsucht nach Wiederauferstehung, Revival und Sichtbarmachung, wie sie im Rahmen von „1700 Jahre“ zelebriert wurde, führt dazu, dass (i)nsbesondere das materielle und intellektuelle deutsch-jüdische Kulturerbe – Synagogenbauten, jüdische Friedhöfe, das geistige Erbe der Haskala und vieles andere mehr – als ein wirkmächtiges kulturpolitisches Mittel eingesetzt wird.6
Die frühere wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der FU Berlin, Dr. Hannah Tzuberi, schrieb in diesem Zusammenhang von der „Wiederaufforstung“ der Juden und der Konstruktion eines „neuen deutschen Judentums“.7
Die Erzählung vom „blühenden jüdischen Leben in Deutschland“
Ein solches blühendes jüdisches Leben sei, so Hannah Tzuberi, der stärkste Beweis dafür, dass Deutschland seine Vergangenheit überwunden hatte; es würde einen verwundeten nationalen Körper heilen, der sonst ohne sein ausgelöschtes (jüdisches) Glied litte. Sie verwendet den Begriff „Wiederaufforstung“ für eine staatlich verwaltete jüdische Wiederbelebungspolitik nach der Wiedervereinigung, die die Vergangenheit durch eine andere „Art“, die als ähnlich vorgestellt und vermarktet wurde, wiederherzustellen versuchen würde.
Es besteht jedoch eine Spannung zwischen dem Streben nach der Wiederherstellung der Vergangenheit und den begrenzten Möglichkeiten, dies durch die Anpflanzung einer anderen Art zu erreichen: Die Wiederaufforstung lässt den Wald, der einmal war, nicht wieder aufleben.
Dennoch sei die Wiederbelebung einer „deutsch-jüdischen“ Kultur nach und nach von deutschen, nicht-jüdischen Bürgern aufgegriffen worden. Das Gedenken an den Holocaust wurde zunehmend von Momenten der Verschmelzung, Eingliederung und Austauschbarkeit durchdrungen. Tzuberi zitiert dazu Michal Bodemann:8
„Um die nationale Erlösung zu erreichen“, mussten die Deutschen „in ihrem eigenen Bewusstsein selbst zu Juden werden.“
Und das wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend auch tatsächlich so vollzogen. Die Historikerin Barbara Steiner kommt in ihrer Forschung über deutsche Konvertiten zum Judentum im Nachkriegsdeutschland zu dem Schluss:9
In Zukunft werden die jüdischen Gemeinden in Deutschland vor allem von zwei Gruppen religiös geprägt: zum einen von den russischen Migranten und zum anderen von den deutschen Konvertiten … Die Orthodoxie, die von israelischen und amerikanischen Gastrabbinern geprägt wurde, wird vor allem von jungen Rabbinern russischer Abstammung geformt werden … andererseits wird sich ein neues liberales Judentum weiter etablieren, das vor allem von ehemaligen Nicht-Juden populär gemacht wurde. … Teil einer deutschen Besonderheit ist, dass dieses neue liberale Judentum zu einem großen Teil von Konvertiten gebildet wird, die als Christen aufgewachsen sind und aus eigenem Antrieb konvertiert sind.
Diese Entwicklung hat sich zunehmend selbst verstärkt. Einzelne treten zu einer Gemeinschaft über, die vor allem aus denjenigen besteht, die zuvor den gleichen Schritt getan haben. Wie Steiner feststellt:10
Konvertiten machen heute, zumindest im liberalen Judentum, einen bedeutenden Teil aus … Als Experten für den Übertritt zum Judentum sind sie Ansprechpartner für diejenigen, die ebenfalls jüdisch werden wollen.
Deutsche Bürgerinnen und Bürger haben nach Tzuberi so ab den 90er Jahren - unabhängig von den bestehenden jüdischen Gemeinden in Deutschland - ihr „eigenes“ Judentum geschaffen, das - im Gegensatz zur Mehrheit der jüdischen Gemeinden in Deutschland - liberal war. Dieses neue Judentum wurde im nächsten Schritt von staatlichen Stellen unterstützt und begünstigt. Zwischen 1990 und 2015 wurden an der staatlichen Universität Potsdam drei konfessionelle akademische Einrichtungen eröffnet, die sich der Ausbildung von liberalen Rabbinern, Lehrern und anderen Fachleuten widmen: eine reformierte Rabbinerschule, die nach Abraham Geiger benannt ist (1999), eine konservative Rabbinerschule, die nach Sacharias Fraenkel benannt ist (2015), und eine Schule für Jüdische Theologie (2013), die alle von Walter Homolka, einem Konvertiten und dem Mitbegründer der Union Progressiver Juden, gegründet und geleitet wurden.
Bei der Ordination der ersten drei liberalen Rabbiner des Abraham Geiger Kollegs im Jahr 2006 in Dresden bezeichnete Bundespräsident Horst Köhler das Ereignis als besonders, weil viele nicht geglaubt haben, dass nach dem Holocaust jüdisches Leben in Deutschland blühen würde.11
Auf der Website des Abraham-Geiger-Kollegs heißt es:
Wir gehen davon aus, dass das Judentum in Deutschland und darüber hinaus weiter gedeihen wird und dass unsere Absolventen und Absolventinnen in seinem Zentrum stehen werden.
Diese Absolventen sind jedoch zu einem nicht unerheblichen Anteil liberale Neu-Juden. Laut Barbara Steiner wurden allein zwischen 2009 und 2013 über die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK), der alle angehören, die nicht Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) sind, 405 Menschen zum Judentum konvertiert. Nach einer von ihr zitierten Aussage von Rabbiner Walter Rothschild wäre die Allgemeine Rabbinerkonferenz in Deutschland ohne Konvertiten gar nicht gegründet worden.
In einem Beitrag über einige der Absolventen des Abraham-Geiger-Kollegs schreibt Andrea Jeska:12
Fremdheit und Befremdung hatte sie erwartet, Apokalyptisches und Apologetisches. Wohl auch einen Rabbiner, der die Toten mit sich trägt, dessen ganze Sehnsucht Israel gilt und den an Deutschland das Anbiedernde oder das verkappt Faschistoide abstößt. Und jetzt das! Ein Loblied auf die Zukunft, die Juden heute in Deutschland haben.
(Er) ist ein cooler Rabbiner.
Die(se) jungen Rabbiner … sind nicht mehr, wie der jüdische Journalist Michel Friedman es einmal formulierte, „auf Gräbern geboren“. Sie sind Rabbiner ohne rabbinische Tradition, nicht die Söhne oder Enkel anderer Rabbiner, keine Träger eines in Jahrzehnten angehäuften Wissens. Sie sind klug, aber ihnen fehlt die Weisheit der vorangegangenen Generationen und der bittere Geschmack der Vernichtung. Sie sind Rabbiner ohne eigene Holocaust-Erfahrung.
Man muss weit ausholen, will man die Geschichte der neuen Rabbiner in Deutschland erzählen. Warum das Land sie braucht, warum sie die Verkörperung der Hoffnung auf ein neues deutsches Judentum sind und warum diese Hoffnung vielleicht bloß eine Illusion ist.
Die Ausbildung zum Geiger-Rabbiner des vorgestellten Absolventen endete im November 2011 in der Bamberger Synagoge Or Chajim mit einer bewegenden Ordinationsfeier mit Händels Feuerwerksmusik und einer Rede des Zentralratsvorsitzenden Dieter Graumann zum Thema „Lasst hundert neue Rabbiner blühen“. Wer aber braucht diese?
Ein weiterer von der ZEIT-Journalistin Andrea Jeska vorgestellter Rabbiner hat ebenfalls eine christliche Vergangenheit:
Er wuchs als Pastorensohn auf, doch bewusst las er die Bibel erst als Konfirmand. Dabei stellte er fest: Er fand das Alte Testament faszinierend, das Neue dagegen langweilig. Früher Christ, heute Jude zu sein bereitet (ihm) keine Schwierigkeiten. „Mit dem Übertritt war es, als sei da keine andere Vergangenheit mehr.“
Der Aufsatz von Hannah Tzuberi endet mit den Worten:
Der neue Rabbiner befreite die (ZEIT-)Journalistin nicht nur von ihrem historischen Unbehagen, sondern auch von einem Unbehagen gegenüber kulturellen Konflikten…: Indem er eine „Hymne auf die Zukunft der Juden im heutigen Deutschland“ sang, wurde er zu ihrem auserwählten Volk.
So trägt die neue Rabbinerausbildung, deren Anliegen es ist, ein „neues deutsches Judentum“ zu konstruieren, dazu bei, dass der eigentliche Zusammenbruch des westlichen Wertesystems nicht nur nicht realisiert, sondern weiter zugedeckt wird.
Das Leben überrascht uns mit neuen Anfängen
Mit dieser Feststellung endet eine der Geschichten vom Schreibtisch des Rabbiners, die Rabbiner Walter Rothschild hier für Mitglieder von ahavta+ erzählt. Sie trägt den Titel: Der Hüter seines Bruders.
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