Herausgerufen: Abrahams Erbe und Jesu Nachfolge
Der Wochenabschnitt Lech Lecha verbindet Abraham und Jesus. Beide folgten einem radikalen Ruf, der den Bruch mit der Vergangenheit bedeutete, um am Ende eine große Nachkommenschaft zu finden.
Das Neue Testament versteht man am besten als „neu“, wenn man es als Echo, als Widerhall und Resonanz der Tora wahrnimmt. Es klingt nicht aus sich selbst heraus.
In 1. Mose 11,27 beginnen die Toldot, die Hervorbringungen (Entwicklungen, Erzeugnisse) Terachs. Siehe dazu:
Neben Nahor und Haran (über den nur gesagt wird, dass er stirbt; siehe dazu Walter Rothschild || Lech Lecha: Aufbruch ins Ungewisse) geht es ab Kapitel 12 der Sidra Lech Lecha und in den beiden folgenden Wochenabschnitten Wajera und Chaje Sara um die Geschichte Abrams/Abrahams.
Die jüdische Tradition spricht von einem siebenfachen Segen für Abraham und davon, dass er zehn Erprobungen besteht. In den „Sprüchen der Väter”, Awot 5,3, heißt es: „Mit zehn Erprobungen wurde Awraham, unser Vater, Friede sei mit ihm, erprobt, und er bestand sie alle.”
Aufgrund dieser Bewährung kann der Verfasser des Jakobusbriefes schreiben: „Wurde nicht unser Vater Abraham aufgrund seines Tuns für gerecht erklärt?” (Jakobus 2,21) Und deshalb wurde er „philos theou, Geliebter (Freund) Gottes“ (v23) genannt. Mit dieser Wendung nimmt der Jakobusbrief einen Ausdruck aus der Haftara, der Prophetenlesung Jesaja 40,27–41,16 zur Parascha Lech Lecha, auf. In Vers 41,8 wird Israel „Same (Nachkomme) Awrahams, meines Geliebten“ genannt.
Im Talmud Sota 31a wird dieser Vers als „Abraham Gott liebend“ gelesen und als Stütze dafür genommen, dass „Gott fürchtend“ (1. Mose 22,12) bei Abraham „aus Liebe“ bedeutet. Der Begriff „Gottesfurcht” gehört heute zu jenen, die von Christen kaum mehr verstanden werden. Martin Luther sah das noch anders: Im Kleinen Katechismus erklärt der Reformator zum ersten Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir“: „Was heißt das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Und seine Erläuterungen der folgenden neun Gebote leitet er jedes Mal mit den Worten ein: „Wir sollen Gott fürchten und lieben …“
Die Gottesfurcht und Gottesliebe in ihrem Zusammenhang sind für Jesus von Nazaret wichtig, da sie dabei helfen, keine Angst vor Menschen zu haben (Matthäus 10,26).
Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten können – die Seele können sie nicht töten. Fürchtet vielmehr den, der Leib und Seele dem Verderben in der Hölle preisgeben kann. Denkt doch einmal an die Spatzen! Zwei von ihnen kosten nicht mehr als einen Groschen, und doch fällt kein einziger Spatz auf die Erde, ohne dass euer Vater es zulässt. Und bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Seid darum ohne Furcht! Ihr seid mehr wert als eine noch so große Menge Spatzen.
Zur Zeit Jesu war es die Willkür der Römer und ihrer Helfer und Helfershelfer, die die Macht hatten, ungestraft zu töten. Für Jesus ist es die Gottesfurcht, die Kraft und Mut gibt, sich den Organen der Macht nicht in Angst und Zittern zu fügen und sich ihrem Willen zu beugen, wenn dieser dem Willen Gottes widerspricht. Es sind zwei Seiten derselben Medaille: „Fürchtet Gott“ und „Seid ohne Furcht“ vor den Menschen!
Diese Aufforderung Jesu ist umso wichtiger, da seine Schüler wie Abraham „Herausgerufene“ sind. In 1. Mose 12,1 wird Abraham aufgetragen: „Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters“. Wäre da nicht ein Ziel genannt, wenn auch ein in Zeit und Ort unbestimmtes, nämlich „in das Land, das ich dir zeigen werde“, so wäre es ein Ruf ins Exil. Und so haben es Juden in der Diaspora über 2000 Jahre hinweg immer wieder erlebt. Auch wenn sie feindliche Mächte und Menschen nicht fürchteten, mussten sie doch oft genug Vertreibung und Gewalt weichen. In der Zeit der Diaspora war es Gottes Wort, die Tora, die ihr Land war, in dem sie zu Hause waren – gleich, in welchem Land sie lebten.
Nicht nur für die ersten Christen wurde Jesus neben der Tora und durch die Tora zum „Land“, gleich wo sie lebten. Denn das bedeutet „Auferweckung aus den Toten“: Der lebendige Messias ist überall. Wo auch immer jemand ist, dort ist er „zuhause“.
Dies mindert jedoch nicht die Herausforderungen der Berufung. Der Ruf an Abraham „Geh heraus aus Vaterland, Familie und Freundschaft“ war einer, den Jesus an Menschen richtete, die er auserwählt hatte, so wie Gott Abram erwählt hatte.
Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Fischer, die auf dem See ihr Netz auswarfen. Es waren Brüder: Simon, auch Petrus genannt, und Andreas. Jesus sagte zu ihnen: »Kommt, folgt mir nach! Ich will euch zu Menschenfischern machen.« Sofort ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm.
Als er weiterging, sah er zwei weitere Brüder: Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes. Sie waren mit ihrem Vater Zebedäus im Boot und brachten ihre Netze in Ordnung. Jesus forderte auch sie auf, mit ihm zu kommen. Und sofort ließen sie das Boot und ihren Vater zurück und folgten Jesus. (Matthäus 4,18–22)
Diese Berufungen sind ungewöhnlich. Nicht nur im rabbinischen Judentum sucht sich ein Schüler seinen Meister, geht zu ihm und lernt bei ihm. Im Neuen Testament ist es jedoch Jesus, der sich seine Nachfolger sucht. Die Berufungsgeschichten verdeutlichen, dass die Nachfolge Jesu – wie bei Abraham – einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Leben bedeutet.
Einen Bruch, den Jesus selbst offenbar gelebt hat. „Brüsker Umgang mit den Eltern. Warum der Mann aus Nazaret für familiäre Beziehungen kein Vorbild ist“, lautete 1994 eine Artikelüberschrift in „Publik Forum“.
In Markus 3,21 machen sich seine Verwandten auf, um ihn aus dem Kreis der Herausgerufenen weg- und zurückzuholen. Sie sagten: „Er ist verrückt geworden.“ Vor dem Haus, in dem sich Jesus aufhielt, schickten sie jemanden, der ihn rufen sollte. Aber das ist ein Ruf von „draußen“, keine Berufung. Jesus grenzt sich davon ab: „Diese hier bei mir sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“
Der Wille und der Ruf von Vater, Mutter, Geschwistern und „Beziehungen” stehen also mitunter der Berufung Gottes entgegen. Das ist nicht immer leicht auszuhalten und schwer zu leben.
„Ein Prophet ist nirgendwo missachtet, außer in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und in seiner eigenen Familie“, sagt Jesus in Markus 6,3 – und das mag nicht nur für Propheten gelten.
Jesus hat sich eine neue Familie ausgesucht, die über seinen Tod hinaus – und bis heute – Bestand haben sollte. Das sind die Christen unter allen Völkern und in allen Kirchen.
Das verbindet ihn mit Abraham. Dieser erhält von Gott das Versprechen einer Familie: „Ich will dich zu einem großen Volk machen.“ (12,2) „Deine Nachkommen will ich machen wie den Staub der Erde. Nur wenn man den Staub der Erde zählen kann, können auch deine Nachkommen gezählt werden.“ (13,16) „Blicke auf zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: ‚So werden deine Nachkommen sein.‘“ (15,5) „Du wirst zum Vater einer Vielzahl von Völkern werden. (…) Ich mache dich über alle Maßen fruchtbar und lasse dich zu Völkern werden; von dir werden Könige abstammen.“ (17,4.6)
Herausgerufen zu werden, führt also bei Gott nicht zu Einsamkeit und Isolation.



