ahavta+ || der Staat Israel – Identität, Moral, Sicherheit
Israel in der Krise. Dieser Eindruck wächst und wird zugleich geschürt. Über Christen in Israel, plurale Identitäten, die iranische Bedrohung und die „Siedlungen“.
Noch keine bisherige Ausgabe hat so viele Leser gefunden wie diejenige vom 11. Juni 2023: ahavta+ || verspottet, verhöhnt und bespuckt. Keine auch solchen Widerspruch. Ich hatte gefragt, was den deutschen Abt Nikodemus Schnabel in Jerusalem antreibt, wenn er schreibt:
„Es geht nicht mehr darum, ob ich angespuckt werde, sondern wie oft am Tag“, so der Ordensmann. Auch das angerempelt und beschimpft werden habe in einer Art und Weise zugenommen, „die unbeschreiblich ist“, so Schnabel. So sei das jüdische Viertel der Altstadt von Jerusalem für ihn, als durch seine Ordenstracht klar erkennbaren Christen, zu einer „No-go-Area“ geworden.
Dazu erläutere ich heute den für mich entscheidenden Gesichtspunkt.
Israel steckt also in einer Identitätskrise? Das fragte die Neue Zürcher Zeitung den Historiker Michael Wolffsohn. Er bejahte dies. Lies unten, warum.
Beunruhigender noch ist, dass die innenpolitische Krise Israels von seinen feindlichen Nachbarn als abnehmende Macht und Kraft des Judenstaates wahrgenommen wird. Es drohen damit politische und militärische Konflikte an mehreren Fronten. Nicht nur vor, sondern bereits hinter der eigenen Haustüre: Der Iran ist bereits hier, im Westjordanland, drückte es ein palästinensischer Beamter in Ramalla aus.
Die „israelischen Siedlungen“ werden oft als wichtigstes Thema im israelisch-palästinensischen Konflikt dargestellt. Sie beherrschen die Debatte zum Nachteil aller anderen Themen. Doch obwohl der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist: Wieviel weißt du eigentlich über die Siedlungen? Für Mitglieder von ahavta+ gibt es heute den ersten Teil einer Reihe über die jüdischen Gemeinwesen im Westjordanland.
Ich wünsche dir Schalom für einen schönen Sonntag und eine gute Woche
dein Ricklef Münnich
Rückblende
Zwei Kritikpunkte gab es bei Facebook an meinem Beitrag über das Anspucken von Christen in Jerusalem. Jens Nieper, früherer Oberkirchenrat der EKD und Geschäftsführer der Evangelischen Mittelostkommission (EMOK) schrieb:1
Was soll denn das? Werden hier Übergriffe gegen Juden in Deutschland gegen Übergriffe gegen Christen in Jerusalem ausgespielt? Ist es weniger schlimm, wenn die Übergriffe gegen Christen zahlenmäßig geringer sind als die gegen Juden (zumal der Autor die alltäglichen Übergriffe, das Anspucken und verbale Anfeinden, unter den Tisch fallen lässt)? Verbrämt Münnich das noch mit Bibelzitaten als das Leiden der Gläubigen, die das nun mal aushalten müssten?
Die Beauftragte der Nordkirche für christlich-jüdischen Dialog, Hanna Lehming, zeigte sich verwundert:
Kritik an christenfeindlichen Übergriffen von jugendlichen jüdisch-orthodoxen Hooligans als Israelfeindlichkeit, gar Antisemitismus zu bezeichnen, kann ich erst recht nicht nachvollziehen. Christliche Leidensbereitschaft gegenüber erklärten Verächtern der christlichen Botschaft - wem es gegeben ist, der zeige sie.
Tatsächlich kommt es mir auf die Relationen an. Eine deutsche und in verschiedenen deutschen Medien deutlich hervorgehobene Kritik daran, dass christliche Kleriker in Jerusalem auf offener Straße angespuckt werden, kann und darf nicht vergessen, wie es als Juden erkennbaren Menschen in Deutschland in der Öffentlichkeit ergeht. Siehe zuletzt den antisemitischen Angriff unter Allahu Akbar-Rufen auf eine jüdische Besuchergruppe aus den USA in Frankfurt. Mehr noch aber sollte der erhobene Zeigefinger gegenüber christenfeindlichen Aktionen in Israel nicht verdecken, wie Juden vor 85 Jahren in den Grenzen des Deutschen Reiches misshandelt wurden.
Ist es wirklich nötig, das Folgende – beispielhaft – in Erinnerung zu rufen:2
„Der 13. März 1938 war der Vorabend meines 16. Geburtstages, und für mich brach eine Welt zusammen“, schrieb die einstige Wienerin Hermine Nurith B.-E. aus Israel. „Von da an gab es nur Spott, Erniedrigung und gewaltsamen Entzug fundamentaler Menschenrechte.“ Wie andere Schicksalsgefährten wurde sie mehrfach angehalten…, bekam einen Kübel mit Wasser und einem scharfen Reinigungsmittel in die Hand gedrückt und musste mit einer Bürste die Straße …reinigen. Zweimal wurde der Kübel von den zuschauenden, spottenden Uniformierten „versehentlich“ umgestoßen, Salzsäure ruinierte Hände und Kleider. (…)
Ähnlich die Erfahrungen von Louis T., der als kaum Neunjähriger zusammen mit seinen Eltern und einer Schwester niederknien … musste. „Es waren noch viele andere Juden da und wir wurden von einer Menschenmenge, die jubelte und fluchte, spottete und auf uns spuckte, umringt. Es fehlte auch nicht an besonders aktiven Wienern, die uns mit Fußtritten und Steinen antrieben. Es war sehr lustig für die Zuschauer.“
Ausführlich berichtet Elisabeth B. von ihren Erlebnissen als österreichische Jüdin ab 1938 („Elizabeth’s Story“). Sie beschreibt unter anderem, wie man ihr eines Tages Wasserkübel zum Säubern von Armeebaracken in die Hand drückte: „Lauge und Säure, mit Wasser vermischt, ließen wenig Haut auf dem Fleisch meiner Hände zurück. Mutter beschmierte sie mit Vaselin – eine kleine Erleichterung, aber der Schmerz war noch immer höllisch. Längs der langen Straße zur Baracke standen Leute auf beiden Seiten, um uns so viel wie möglich anzutun (…) Sie spuckten uns ins Gesicht, stießen und traten uns und fügten dem körperlichen Missbrauch auch noch einen in bösen Worten hinzu.
Dies zu wissen und zu erinnern, beschönigt in keiner Weise christenfeindliche Vorkommnisse im heutigen Israel. Doch können sie von Deutschen nicht geschichtslos kritisiert werden.
Melissa Gould schrieb 2008 zu ihrer Kunstinstallation:3
Ich konzipierte diese Objekte – die „Souvenir Wien 1938 Reibbürste“ und ihr Begleitstück, die „Sara/Israel Zahnbürsten“ – um an Wien im Jahr 1938 zu erinnern, als Juden gezwungen wurden, die Straßen mit Bürsten – auch mit ihren Zahnbürsten – zu reinigen. Mein Großvater (Dachau, November 1938; Auschwitz, November 1942, ins Gas geschickt wenige Stunden nach seiner Ankunft) war einer von ihnen – kniend, eine Bürste in der Hand.
Deutsche und Österreicher waren Meister in der Demütigung von Jüdinnen und Juden. Und für denjenigen, der glaubt, der Nationalsozialismus sei ein geschichtlicher „Ausrutscher“, zitiere ich Johannes Eck, den katholischen Theologen und Gegner Martin Luthers (1486–1543):4
Beschließlich die Juden soll man under den Christen gedulden … das sie sich mit jhr arbait mit jhrn haenden in dem schwaiß jhrs angsichts sich neren müeßten un verachtliche arbeit thun: dan (denn) sie seind knecht der Christen spricht S.(Sankt) Augustin: so solt mans knechtlich halten und nit so herrlich: in ainer stat gassen seübern (…) Und dar bey niemants mit jhn eß oder trenck.5
Nochmals: Dieses geschichtliche Wissen um die mit Augustinus christlich begründete „knechtliche Haltung“, nämlich Versklavung von Juden macht die Demütigung von Ordensleuten in Israel nicht bedeutungslos. Aber ausblenden sollte man es nicht.
Ein zweiter Kritikpunkt von Jens Nieper und Hanna Lehming an meinem Beitrag lautete:
Und wie widersinnig ist es, zu sagen, die Extremisten in der israelischen Regierung müsse man akzeptieren, weil sie demokratisch gewählt seien: auch die NSDAP wurde demokratisch gewählt - und was sagt Münnich, wenn (Gott behüte uns davor!!!) die AfD mal an die Macht kommen sollte? Münnich verschließt naiv sich der Ideologie und Politik des Kahanismus - für den Itamar Ben-Gvir steht. … Münnich kuschelt mit jüdischem Extremismus - nur um jede Kritik an am Staat Israel abzuschmettern. (Jens Nieper)
Ich bin einigermaßen überrascht, … dass du für einen selbsterklärten Faschisten wie Itamar Ben Gvir irgendeine Sympathie aufbringen kannst. (…) diese jüdischen Rotzlümmel haben Null Ahnung vom christlichen Glauben, sie dreschen einfach auf alle ein, die „anders“ sind. (…) Es geht um die Moral einer Gesellschaft. (Hanna Lehming)
Ich habe nicht vor, die gegenwärtige israelische Regierung moralisch zu verteidigen. Ich hatte darauf hingewiesen, dass sie die Mehrheit der Wählerstimmen in der Knesset vereinigt. Das ist zunächst von Deutschland aus zu akzeptieren – selbst dann, wenn man, wie Nieper, bereit ist, demokratische Spielregeln bei einem Wahlsieg der AfD in Deutschland außer Kraft zu setzen.
Kritisiert hatte ich vielmehr, dass Nikodemus Schnabel eindeutig eine politische Agenda (hat). Und sie ist die eigentliche Triebfeder der Klageworte des Abtes. In dem jesuitischen Magazin America hat Schnabel dies vor vier Tagen erneut anklingen lassen:
Im Jahr 2015 konnte ich sagen, dass es diese jüdischen Terroristen [die Christen und christliche heilige Stätten angreifen] gibt, aber das offizielle Israel unterstützt uns. (…) Jetzt müssen wir Mönche unter einer Regierung leben, von der eines der Mitglieder ein extremer Christenhasser ist. (…) Wie sollte ich mich unter dieser Regierung sicher und geborgen fühlen?
Wadie Abunassar, Sprecher und Koordinator des Christlichen Forums für das Heilige Land, sprang ihm bei und sagte, dass die heutigen Christen in Israel Frustration, Wut und - bei einigen - sogar Hass gegenüber dem israelischen Establishment empfinden.
Stellen Sie sich bewusst in den Schatten des Kreuzes! , hatte ich den früheren Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Michel Sabbah, zitiert. Dann nämlich wird eine Liebe zu Israel – wenn sie vorhanden war – nicht in Hass umschlagen.
Israel in einer Identitätskrise
Der emeritierte Professor für neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, Michael Wolffsohn, sagte am 12. Mai 2023 gegenüber der Neuen Züricher Zeitung:
Die Demonstrationen sind das letzte Aufbäumen des aschkenasischen Judentums gegen die Orientalisierung und Judaisierung Israels. Das vornehmlich weltlich aschkenasische, also auch amerikanische Judentum ist durch die demografische Entwicklung in der Minderheit gegenüber den orientalischen, vergleichsweise religiöseren Juden. Nicht zu vergessen die Nationalreligiösen plus die Orthodoxen, die das göttliche Gebot «Seid fruchtbar und mehret euch» wörtlich nehmen. Dadurch hat die israelische Demografie und somit Demokratie sich vollkommen verändert. Ich spreche daher heute von Neu-Israel. (…)
Das alte Israel, das aschkenasische, hat bislang immer die erste Geige gespielt. Und jetzt ist es umgekehrt. Jetzt spielt das zweite Israel mit den sephardischen und religiösen Juden die erste Geige. Dabei ist politisch wie soziologisch interessant, dass Netanyahus Likud-Partei die einzige Brücke zwischen dem aschkenasischen und dem orientalischen und religiösen Judentum ist. (…) Aus wahltaktischen Gründen umwarb Begin diese orientalischen Juden, die von anderen Parteien paternalistisch behandelt worden sind. Irgendwie muss man ja, wenn man regieren will in der Demokratie, Mehrheiten bekommen. Und dieses Anti-Establishment-Image hat sich der Likud, obwohl seit 1977 mit wenigen Unterbrechungen durchgehend an der Macht, bewahren können.
Weiter meinte Wolffsohn, dass das Ganze durchaus an der Existenz Israels rüttele,
weil eben sehr viele von den Aschkenasim rauswollen. Es gibt einen Braindrain durch den Exodus von den aschkenasischen Bildungs- und Wirtschaftseliten. Diese werden in der Diaspora die physische und auch die diskriminierende Bedrohung von Juden erleben. Wenn sie dann doch wieder nach Israel kommen, ist dieses in der Zwischenzeit immer orientalischer und religiöser geworden und kulturell, technologisch und naturwissenschaftlich nicht mehr auf dem Stand der Moderne. Mit den Talmud-Schülern können sie das Land nicht tragen. Ich bin sehr pessimistisch, denn die Gemeinsamkeit des Jüdischen in Israel ist mehr Fiktion als Realität.
Zugleich vermag Wolffsohn in der Frage, Wie können die weltlichen Israeli – wie die meisten Aschkenasim mit den Einwanderern aus Nordafrika – mit den Religiösen und Orthodoxen zusammenleben? Es verbindet sie nichts, einen Schlüssel zur Beilegung des Nahostkonfliktes zu sehen. Linke und Rechte, Aschkenasim und Sefardim, Säkulare und Religiöse müssen innerhalb des jüdischen Israel lernen, miteinander auszukommen. Und das gilt analog auch für das Zusammenleben von jüdischen Israeli, Arabern und Palästinensern. Ein Vorbild für einen möglichen Modus Vivendi erkennt Wolffsohn in dem Schweizer Föderalismus-Modell und dem späte(n) Habsburgerreich mit seiner Personengruppen-bezogenen Autonomie – das sind alles höchst bedenkenswerte Modelle, weil sie Konflikte minimieren.
Der Iran dringt vor
Der Nahost-Thinktank mena-watch berichtete Mitte Juni, dass die USA offiziell bestätigten, dem Irak bewilligt zu haben, 2,7 Milliarden Dollar seiner Schulden an den Iran freizugeben, die wegen der Sanktionen eingefroren waren. Dazu schrieb mena-watch jetzt in einem Editorial: Wer aber glaubt, die freigewordenen Gelder würden für die Linderung der Armut der iranischen Bevölkerung ausgegeben, wird eines Besseren belehrt werden. Laut einer Sicherheitsquelle aus dem Umfeld der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sei es dem Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) in den vergangenen achtzehn Monaten gelungen, mehrere bewaffnete Zellen im nördlichen Westjordanland einzurichten und Dutzende von Bewaffneten zu rekrutieren.
Insbesondere in den Gebieten von Dschenin und Nablus sei der PIJ sogar zur dominierenden Kraft geworden, was laut der Quelle vor allem auf die finanzielle Unterstützung aus dem Iran zurückzuführen ist: »Der Islamische Dschihad verwendet iranisches Geld, um Waffen und Loyalität im Westjordanland zu kaufen. Die Organisation zahlt ihren Mitgliedern hohe Gehälter.« (…) »Die Iraner wollen, dass ihre palästinensischen Agenten deren Kontrolle vom Gazastreifen auf das Westjordanland ausweiten.«
In einer Studie des israelischen Institute for Policy and Strategy wird jetzt darauf hingewiesen, dass der Iran und die USA kurz vor einer Einigung stehen, wonach der Iran die Urananreicherung auf 60 Prozent einstellen und sein waffenfähiges Atomprogramm stoppen wird. Im Gegenzug werden die USA einige Sanktionen erleichtern und 20 Milliarden USD freigeben. Das Hauptergebnis der potenziellen Vereinbarungen wäre, dass der Iran den unmittelbaren Bau von Atomwaffen verhindert, aber in anderen Bereichen Fortschritte erzielt. Der Iran bleibt ein Schwellenland im nuklearen Bereich und behält seine Fähigkeit bei, innerhalb von zwei Wochen Uran auf 90 Prozent anzureichern.
Da sich die Vereinbarungen hauptsächlich auf den militärischen Nuklearbereich konzentrieren, kann der Iran weiterhin in Bereichen wie ballistischen Raketen wachsen und gleichzeitig Mittel zur Bewältigung wirtschaftlicher Schwierigkeiten nutzen. Gleichzeitig baut der Iran seine Beziehungen zu Russland aus und entwickelt seine strategischen Beziehungen zu China. Dies könnte das Selbstvertrauen des Irans stärken, Israel direkt oder indirekt herauszufordern.
Aus israelischer Sicht könnte Israel strategische Vorteile verlieren. Es könnte schwieriger werden, internationale Unterstützung für einen militärischen Einsatz gegen den Iran zu erhalten. Positiv ist jedoch, dass Israel durch die Eindämmung des iranischen Atomprogramms Zeit gewinnt, seine Streitkräfte weiter auszubauen.
Israel sollte sich – so die Empfehlungen der Studie – sowohl politisch als auch militärisch auf einen umfassenden Konflikt an mehreren Fronten vorbereiten, da die Interessen seiner Feinde mehr und mehr ineinander greifen. Aktuell habe der Iran schwimmende Terrorstützpunkte eingerichtet, indem er zivile kommerzielle Schiffe in Militärschiffe umwandelt, um terroristische Aktivitäten auf See durchführen zu können.
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