Kantor Amnon Seelig widmet sich im „Wort zum Schabbat“ dem Tora-Wochenabschnitt Wajischlach in 1. Mose 32,4–36,43 und beleuchtet die zutiefst menschliche Seite des biblischen Erzvaters Jakob.
Bei ahavta - Begegnungen kannst du den Tora-Abschnitt der Woche in der Übersetzung durch Samson Raphael Hirsch lesen und sogar als Podcast anhören:
Im Zentrum steht Jakobs bevorstehende Begegnung mit seinem Zwillingsbruder Esau, den er seit 20 Jahren nicht gesehen hat. Die letzte Erinnerung an Esau ist dessen Morddrohung, weshalb Jakob verständlicherweise große Angst verspürt. Seelig betont, dass die Tora hier keinen unerschütterlichen Heiligen zeichnet, sondern einen Menschen voller Widersprüche und Furcht. Obwohl Jakob göttliche Zusagen erhalten hat, fürchtet er sich. Diese Darstellung biblischer Figuren als fehlbare Menschen, die trotz ihres Glaubens Ängste durchleben, macht sie laut Seelig besonders nahbar.
Jakob überlässt in dieser existenzbedrohenden Situation nichts dem Zufall. Er verlässt sich nicht allein auf Gott, sondern ergreift aktiv Maßnahmen. Unter Berufung auf den berühmten Tora-Kommentator Raschi erläutert Seelig, dass Jakob sich auf drei verschiedene Weisen („drei Dinge“) auf das Zusammentreffen vorbereitet: durch Gebet, durch Geschenke und durch Kriegsvorbereitung. Diese dreifache Strategie verdeutlicht, dass spirituelles Vertrauen und pragmatisches Handeln im Judentum Hand in Hand gehen.
Zunächst wendet sich Jakob im Gebet an Gott. Er erinnert den Ewigen an dessen frühere Versprechen, ihn zu beschützen und ihm wohlzutun. Jakob zeigt sich demütig („Zu gering bin ich für alle Gnade“) und bittet explizit um Rettung aus der Hand seines Bruders. Er weiß, dass ohne göttlichen Beistand alle menschlichen Pläne scheitern können.
Parallel dazu bereitet sich Jakob auf den „Krieg“ vor – den schlimmsten Fall („Worst Case Scenario“). Er teilt sein Lager, seine Familie und seinen gesamten Besitz in zwei Gruppen auf. Das Kalkül ist rational und schmerzhaft zugleich: Sollte Esau angreifen und das eine Lager vernichten, so könnte zumindest das andere entkommen. Jakob hofft auf das Beste, plant aber konkret für die Katastrophe.
Die dritte Säule seiner Strategie ist das „Geschenk“ (Doron). Um Esaus Herz zu erweichen, schickt Jakob ihm riesige Herden von Tieren entgegen – Ziegen, Schafe, Kamele, Kühe und Esel. Er instruiert seine Knechte, Raum zwischen den Herden zu lassen, um die Menge der Geschenke noch imposanter wirken zu lassen. Seelig merkt an, dass diese Taktik der Bestechung oder Beschwichtigung oft funktioniert: Materielle Gaben können den Zorn eines Gegners lindern. Tatsächlich verläuft das Treffen am Ende friedlich; die Brüder umarmen sich und gehen ihrer Wege.
Seelig zieht zudem eine faszinierende Parallele zu einer späteren Episode im Leben Jakobs, die im Abschnitt „Mikez“ (1. Mose 41–44,17) erzählt wird. Jahre später, während einer Hungersnot, muss Jakob seine Söhne nach Ägypten schicken. Auch hier wendet er das gleiche Muster an: Er schickt Geschenke (Honig, Nüsse, Balsam) an den unbekannten ägyptischen Herrscher (der unerkannt sein Sohn Josef ist), lässt das Geld zurückgeben und spricht ein Gebet für Barmherzigkeit. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Jakob muss seinen jüngsten Sohn Benjamin ziehen lassen, ohne eine Garantie für dessen Rückkehr. Mit den Worten „Wenn ich kinderlos sein soll, so sei ich kinderlos“ zeigt Jakob eine neue Stufe der geistigen Reife. Er akzeptiert, dass er trotz aller Vorbereitung („Kontrollfreak“-Tendenzen des Menschen) letztlich keine Kontrolle über das Schicksal hat.
Das Fazit der Betrachtung ist eine Lehre für das eigene Leben: Der Mensch soll alles tun, was in seiner Macht steht – planen, arbeiten, strategisch handeln („Geschenke und Krieg“) – und gleichzeitig beten. Doch am Ende muss er, wie Jakob, loslassen und akzeptieren, dass das Ergebnis in Gottes Hand liegt.











