In seinem Wort zum Schabbat für den Wochenabschnitt Bereschit erläutert Rabbiner Dr. Walter Rothschild die tiefere Bedeutung des Schöpfungsberichts im 1. Buch Mose. Er betont, dass die Bibel nicht mit einem wissenschaftlichen Traktat, sondern mit dem schönsten Gedicht der Geschichte beginnt. Fantasielose Wortgläubige, die den Text als Prosa lesen und mit Fakten aus Wissenschaft oder Biologie abgleichen wollen, stellen laut Rothschild die falschen Fragen und erhalten daher unbefriedigende Antworten. Poesie handle von Gefühlen und Wahrnehmungen, nicht von Fakten.
Bei ahavta - Begegnungen kannst du den Tora-Abschnitt der Woche in der Übersetzung durch Samson Raphael Hirsch lesen oder sogar als Podcast anhören:
Um die poetische Kraft des Textes zu verdeutlichen, entwirft Rothschild ein Gedankenexperiment: Er erklärt einem intelligenten, aber unwissenden Menschen das Universum. In einfachen, beobachtenden Worten beschreibt er die grundlegenden Elemente der Welt. Er beginnt mit der Entstehung von Licht aus dem Nichts, dem Wechsel von Tag und Nacht und der Trennung von Wasser und Himmel durch eine schützende Atmosphäre. Er erläutert die Zyklen der Natur: die Sonne, die Wärme und Licht spendet, der Mond, der die Gezeiten beeinflusst, und die Sterne, die zur Orientierung dienen. Diese Regelmäßigkeit der Zyklen, so Rothschild, ist ein göttliches Design, das Ordnung schafft und Furcht überflüssig macht. Es gibt eine Zeit zum Arbeiten und eine zum Schlafen.
Rothschild unterscheidet diese „Infrastruktur“ der Welt von dem Mysterium des „Lebens“. Das Leben, erklärt er, kann nicht erschaffen, sondern nur beobachtet werden. Es entspringt aus dem Nichts und erfüllt Wasser, Luft und Erde in unzähligen Formen – von Fischen und monströsen Meereskreaturen über Vögel und Insekten bis hin zu den Säugetieren, zu denen auch der Mensch gehört. Selbst die Pflanzenwelt zeugt von dieser unerklärlichen Lebenskraft. Diese ganze geordnete und lebendige Welt deutet auf einen Schöpfer, „Elohim“, hin, der allem einen Sinn und eine Bestimmung gibt.
Walter Rothschild stellt dir den Text seines Wortes zum Schabbat zur Lektüre zur Verfügung. Hier ist der Link zum Download der PDF-Datei.
Anschließend zeigt Rothschild auf, dass der biblische Text eine zweite, alternative Erzählung präsentiert. Diese konzentriert sich nicht auf den Kosmos, sondern auf den Menschen. Sie beginnt in einem paradiesischen Zustand, der jedoch durch menschliches Handeln eine Wendung erfährt. Aus Gottes Sicht geht etwas schief, aus menschlicher Sicht findet eine Evolution statt: Der Mensch muss fortan für seinen Lebensunterhalt schwitzen, Ackerbau betreiben, Werkzeuge erfinden und Familien gründen, um Wissen weiterzugeben.
Die entscheidende Einsicht ist für Rothschild, dass das zweite Kapitel keine chronologische Fortsetzung des ersten ist, sondern ein völlig neuer Anfang. Die Existenz dieser beiden unterschiedlichen, sich nicht nahtlos aneinander anschließenden Versionen beweist, dass keine von beiden die alleinige Wahrheit für sich beansprucht. Stattdessen bietet die Tora mehrere Perspektiven, um die Welt und die Rolle des Menschen darin zu verstehen, und trägt damit einen poetischen und metaphorischen Charakter.